Interview Verlassene Heimkinder: Die Schattenseite des Mauerfalls
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26. November 2020, 17:30 Uhr
Eberhard Weißbarth war selbst ein Heimkind, allerdings in West-Berlin. Auch darum lässt ihn das Schicksal der in der DDR zurückgelassenen Kinder nicht los. 1990 drehte er einen ersten Film darüber. Einige Jahre später besuchte er einige der Kinder wieder, wollte wissen, was aus ihnen geworden ist. MDR ZEITREISE sprach mit dem Filmemacher über seine Beweggründe.
Was hat Sie dazu gebracht, 1990 einen Film über die verlassenen DDR-Kinder zu drehen?
Eberhard Weißbarth: Einige Wochenzeitungen haben darüber berichtet, es war damals ein brandaktuelles Thema, wegen des Mauerfalls. Dann habe ich im Fernsehen eine kleine Dokumentation gesehen von drei oder vier Minuten Länge. Das fand ich wahnsinnig spannend und merkte in meiner Magengrube: Das bewegt mich, jetzt muss ich was machen. Ich hatte ja die ganze Zeit schon seit Jahren Dokumentarfilme gedreht. Aber das war mein Thema. Es hatte in mir gebrannt, und aus diesem Grunde bin ich dann zur Deutschen Welle gegangen und habe gefragt, ob ich diesen Bericht machen soll. Ich bin selbst ein Betroffener, wenn auch aus West-Berlin. Ich kann deshalb nachempfinden, wie es diesen Kindern ergangen ist. Und ich wollte unbedingt einen Aufruf machen, das Schicksal dieser vernachlässigten Kinder aufzeigen und andere, denen es besser ging, wachrütteln, damit man eventuell die Kinder auch adoptieren kann, damit sie in Zukunft ein besseres Leben haben.
Welches Bild hat sich Ihnen in den Heimen dargeboten?
Es war grauenhaft. Diese Babys, die ein halbes Jahr oder ein Jahr alt waren, die da unschuldig mit Nuckel in ihren Gitterbettchen lagen. Und dann die ersten Kinder, die ich da interviewt habe - wie betroffen die waren, sie waren alle durchweg traumatisiert. Sie wussten nicht, was mit ihnen geschehen ist. Das war für mich so schlimm, dass ich mir gesagt habe, das muss ich unbedingt in die Öffentlichkeit tragen!
Die Erzieherinnen haben sich sehr um die Kinder bemüht, aber ich kam mir vor wie in einem Flüchtlingslager! Als damals die Mauer gebaut wurde, sind ja viele DDR-Bewohner in den Westen geflüchtet und kamen ins Auffanglager Mariendorf. Und so kam mir das dort vor. Es war im Grunde genommen eine Massenabfertigung und man hat gespürt, dass diese Erzieherinnen und Erzieher überfordert waren, weil eben zu viele Kinder da waren. Sie haben versucht, jedem Kind eine gewisse Geborgenheit zu geben, aber sie konnten denen keine elterliche Liebe geben, kein Zuhause.
Woran merkten Sie, dass die Kinder traumatisiert waren?
Indem die Kinder sprachlos waren, indem sie nach Worten gesucht haben, indem sie geweint haben, indem sie einfach nicht wussten, wo sie hingehören! Sie fühlten sich auch in dem Heim so eingeengt. Die Erzieher waren freundlich, aber das war's dann auch. Den Kindern fehlte natürlich die Mutter- und die Vaterliebe. Die Kinder waren einfach verstört. Sie wurden ja aus ihrem Kinderzimmer, aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und sind dann brutal da in so ein Heim gestoßen worden. Und das war für die Kinder wahnsinnig schlimm, weil sie auch keine Perspektive hatten, keine Zukunft. Niemand hat sie ja abends in den Arm genommen oder morgens mit einem Kuss begrüßt. Die ganze Wärme einer Mutterliebe und Vaterliebe war weg! Da habe ich mich gefragt, was wird aus den Kindern später werden?
Liebten die Kinder ihre Eltern trotzdem?
Ja, die Kinder liebten ihre Eltern. Aber die Eltern liebten eben nicht mehr die Kinder, und das finde ich schlimm, was den Kindern seelisch angetan wurde. Ich würde gerne wissen, was aus ihnen geworden ist, ob sie heute noch traumatisiert sind, ob sie überhaupt in der Lage sind, eine Ehe einzugehen, selbst Kinder zu zeugen? Ich merke das auch bei mir als westdeutsches Heimkind. Ich bin ja auch noch nicht davon befreit, obwohl ich meinen Mann stehe und mein Leben gut gemeistert habe - aber trotzdem holt das einen immer wieder ein. Die Eltern wissen nicht, was sie an Verbrechen ihren Kindern angetan haben.
Ist es richtig, sich noch 30 Jahre später mit den verlassenen DDR-Kindern zu beschäftigen?
Ja. Sie sollten in die Öffentlichkeit gehen und das anprangern, was damals passiert ist. Es geht hier nicht darum, dass die DDR schlecht gemacht wird. Es geht um die Väter und Mütter, die die Kinder benachteiligt haben. Es geht alleine um die verbrecherischen, unmenschlichen Handlungen der Mütter und Väter. Die haben ihre Kinder weggeworfen wie Müll. Wenn sie wenigstens versucht hätten, ein neues Leben anzufangen und die Kinder rausgeholt hätten. Aber nein, sie haben sich im Westen häufig noch das Kindergeld geben lassen, sich selbst damit ein gutes Leben gemacht und diese armen Würmer einfach so zurückgelassen! Es ist grausam. Es ist für mich nach wie vor ein Verbrechen und es müsste eigentlich ein Gesetz geben, dass man diese Väter und Mütter heute noch wegen dieser Unmenschlichkeit bestraft!
Eine Mutter haben Sie damals schon mit der Kamera besucht. Welchen Eindruck hatten sie von ihr?
Ich hatte die Möglichkeit, mit Staatsanwaltschaft und Jugendamt, den Andreas sofort aus dem Heim rauszuholen und zu ihr zu bringen. Aber sie wollte den Jungen nicht mehr. Wir hätten den Jungen ins Auto gesetzt, mit einem Stofftier noch und hätten ihn zur Mutter gefahren. Das wollte die Mutter aber nicht und mir hat das weh getan. Der andere Sohn der Frau, der bei ihr lebte, weinte, weil er seinen Bruder im Fernsehen gesehen hatte. Das fand ich ganz schlimm, wie der Junge weinte, damit habe ich gar nicht gerechnet. Und wie diese Mutter so eiskalt war, das fand ich unmöglich.
Was denkt man als Filmemacher bei so einem Erlebnis?
Am liebsten hätte ich ihr beinahe eine "reingehauen". Das konnte man natürlich nicht machen. Ich hätte sie gern angeschrien. Aber das steht mir nicht zu. Diese Mutter war für mich ein eiskalter Brocken, wir waren sprachlos. Sie sagte, sie holt Andreas nicht zurück, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat! Und der kleine Bruder sitzt daneben! Unmöglich! Die Frau lebt übrigens nicht mehr.
Und dann haben sie zehn Jahre später manche dieser Kinder wieder beusucht...
Ja. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ihnen geht. Dafür habe ich herumtelefoniert wie blöde, aber ich habe die meisten Kinder nicht mehr gefunden, außer zwei - unter anderem den Andreas. Und dann haben wir uns umarmt, haben uns geduzt wie damals, als er noch Kind war. Wir waren sofort in einem engen, freundschaftlichen Verhältnis und seine Pflegemutter, die den Jungen aufgenommen hatte, war eine ganz reizende Frau.
Der andere Junge, den ich damals noch gefunden habe, war drogensüchtig geworden und lebte von Sozialhilfe. Er ist im Grunde genommen abgestürzt. Das war schlimm, als ich das erfahren habe. Er hat es einfach nicht gepackt, weil niemand ihm geholfen hatte. Die Nachbarn haben ihn gemieden. Auch wenn er sich bemüht hat, konnte er keine Arbeit finden. Das war für ihn ganz ganz schwer. Leider habe ich ihn heute nicht mehr finden können.
Aber Thomas hat ein Happy End in seinem Leben?
Sein Vater hat sich schon damals, nach dem zweiten Film gemeldet: Er rief an und sagte: "Ich habe diesen Bericht gesehen und anhand seiner Behinderung wusste ich, das ist mein Junge". Von seiner Frau habe er sich wegen ihrer Trunkenheit getrennt und nicht gewusst, dass sie den Jungen ins Heim gebracht habe. Thomas hat sich dann mit seinem Vater mal getroffen, aber das Verhältnis ist heute zerstört. Dafür hat ihm seine Pflegemutter, Gott sei dank, so viel Liebe gegeben hat, mehr Liebe als seine leibliche Mutter. Er hat geheiratet, hat zwei Kinder, es geht ihm gut.
Und ich hoffe, dass es den anderen Kindern genauso gut oder sogar noch besser geht. Deswegen ist der Aufruf so wichtig: Ich will, dass sie Anerkennung finden, dass sie sich nicht mehr benachteiligt fühlen, dass sie auch in einer gewissen Form Liebe bekommen, dass sie sich aussprechen können. Diese Doku nach 30 Jahren ist ein Heilungsprozess für die Kinder. Alle Kinder, die sich in dem Film wieder sehen oder die ähnliche Schicksale hatten, sollten sich melden und sagen: "Ich bin einer von denen. Ich möchte euch meine Geschichte erzählen."
Eberhard Weißbarth Eberhard Weißbarth ist Filmemacher, Schauspieler, Drehbuchautor und Synchronsprecher. 1990 drehte er die erste Doku über Kinder aus der DDR, die nach dem Mauerfall von ihren Eltern verlassen wurden. 1999 folge eine Fortsetzung, in der er einige der Kinder vor damals ausfindig machte. 2020 trat er in der MDR- und SpiegelTV-Coprouduktion "Als Mutti in dien Westen ging" vor die Kamera. Das hier veröffentlichte Interview ist eine gekürzte Abschrift aus dem Rohmaterial für diesen Film.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Als Mutti in den Westen ging | 10. November 2020 | 22:10 Uhr