History Summit in Halle Kraft der Geschichte: Chancen und Grenzen historischer Dokumentation

12. Januar 2024, 16:55 Uhr

Auf dem dreitägigen History Summit in Halle tauschen sich 400 Regisseure, Historiker und Autoren aus aller Welt über ihre Arbeit aus und gehen der Frage nach, welche Verantwortung, Grenzen und welche Wirkkraft historische Dokumentationen haben.

Internationale Dokumentarfilmer und Politiker im Dialog

Es wird emotional, als die ehemalige afghanische First Lady Rula Ghani fragt: "Warum haben Sie das gemacht? Warum haben Sie den Taliban mit Ihrer Dokumentation so eine Aufmerksamkeit gegeben?" Die Frage richtet sich an Mohammed Ali Naqvi, der Filme wie "Der Diktator, die Taliban und ich" oder die Netflix-Serie "Turning-Point: 9/11 and the War on Terror" gedreht hat. Zu einer abschließenden Antwort kommt er nicht. Auf dem Podium des History Summit in der Händel-Halle entspinnt sich schnell ein reger Austausch zwischen den internationalen Dokumentarfilmern. Darüber, welche Pflichten und welche Verantwortung mit der Produktion historischer Berichte einhergeht.

Grenzen und Chancen historischer Berichterstattung

Eine Frau mit kurzen braunen Haare und schwarzer Brille lächelt in die Kamera.
Anaïs Roth, Redaktionsleiterin von MDR Geschichte und Dokumentationen. Bildrechte: privat

Während des dreitägigen Events "History Summit" sprechen internationale Akteure aus Politik, Journalismus, Forschung und Dokumentation über ihre Arbeit und die Bedingungen historischer Berichterstattung. Es geht um Perspektivwechsel, um Standpunkte und Ereignisse, die es sich zu beleuchten lohnt, weil sie sonst vielleicht keiner sieht. Aber auch um die Suche nach Antworten darauf, ob sie gesellschaftliche Spannungen der Gegenwart entschärfen können und sich nationalhistorische Narrative ausräumen lassen, die zum Beispiel Berichterstattungen über den Krieg in der Ukraine oder in Israel begleiten. "Wir spüren als Dokumentarfilmschaffende eine enorme Verantwortung in der Frage, wessen Geschichte wir wie erzählen", so Anaïs Roth, Redaktionsleiterin von MDR Geschichte und Dokumentationen. "Das betrifft die Auswahl von Experten und Gesprächspartnern ebenso wie den Fokus, den man auf ein historisches Ereignis legt."

Wir spüren als Dokumentarfilmschaffende eine enorme Verantwortung in der Frage, wessen Geschichte wir wie erzählen.

Anaïs Roth Redaktionsleiterin MDR Geschichte und Dokumentationen

Ukraine: "Kein Schutz der Zivilbevölkerung"

Auf der Veranstaltung History Summit spricht auch der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa. In seiner neuesten Dokumentation "Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung" beschäftigt er sich mit der Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg und geht der Frage nach, welchen Schutz es im Krieg für die Zivilbevölkerung gibt? "Politiker haben auch heute keine Antwort darauf, wie man Krieg führt ohne Städte anzugreifen und Zivilisten zu töten", so der Ukrainer gegenüber MDR Aktuell.

Die Frage, wie Kunst und Kultur den Krieg beeinflussen können, ist sinnlos. Kunst und Kultur sind hilflos und mit die ersten Opfer des Krieges.

Sergei Loznitsa

Loznitsa wurde im vergangenen Jahr 2022 von der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, nachdem er sich gegen einen, von der Institution ausgerufenen, pauschalen Boykott russischer Filme beim Europäischen Filmpreis ausgesprochen hatte. Die Akademie hatte kurz nach Kriegsbeginn im Februar 2022 dazu aufgefordert, diese Produktionen nicht mehr zu unterstützen.

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Fr 12.01.2024 16:51Uhr 19:51 min

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Wer ist Sergei Loznitsa? Der 59-jährige Sergei Loznitsa wuchs in der ehemaligen Sowjetunion auf. Er studierte Mathematik und arbeitete einige Jahre als diplomierter Ingenieur am Institut für Kybernetik in Kiew. 1991 zog er nach Moskau, machte seine Ausbildung zum Regisseur und arbeitet seitdem Filmemacher. Mittlerweile zählt Sergei Loznitsa zu den bekanntesten europäischen Dokumentarfilmern.

Italienischer Kriegsreporter: Zwei Seiten zu jeder Geschichte

Auch der italienische Journalist und Kriegsreporter Gian Micalessin geriet 2023 wegen zu unkritischer Berichterstattung über Russlands Verantwortung im Ukraine-Krieg in die Kritik. "Es gibt zu jeder Geschichte zwei Seiten, zwei Perspektiven und es ist die Aufgabe von Filmemachern und Journalisten, alles zu beleuchten", so Micalessin. Schon in den 1980er Jahren berichtete er aus Kriegsgebieten wie Afghanistan. Zeigte in seinen Kriegsdokumentationen die Folgen der Zerstörung in ihrem ganzen Ausmaß. Heute, so sagt er, würde kaum einer mehr in den Abendnachrichten Berichte zeigen, wo man verstümmelte und tote Menschen sieht. "Es gibt zu viele Krisen, die zu schnell kommen. Manchmal sind wir als Zeugen dieser Krisen nicht mehr in der Lage, richtig zu verarbeiten, was wir erleben."

Hinweis: Der MDR ist Medienpartner der Veranstaltung.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 26. Oktober 2023 | 21:45 Uhr