Erfunden auf dem Schlachtfeld Entscheidung über Leben und Tod: Die Geschichte der Triage
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23. November 2021, 16:51 Uhr
Sachsen ist im Dezember 2020 Corona-Hotspot, die Intensiv-Stationen in einigen Krankenhäusern sind voll. Ein Arzt aus Zittau berichtete, er habe bereits auswählen müssen, welchen Patientenen ein Beatmungsplatz zur Verfügung gestellt wird und welchen nicht. Dabei war die Triage bei ihrer Erfindung für viele Menschen die Rettung vor dem Tod.
Napoleon Bonaparts Feldzüge (1792-1815) waren schlimme Schlachten. Es gab massenhaft Tote, auch weil die Verletzten auf dem Schlachtfeld nicht versorgt wurden. Der mitreisende Armeechirurg Dominique-Jean Larrey richtete "fliegende Lazarette" ein: Pferdewagen mit chirurgischer Ausrüstung. So konnten Verwundete noch während des Gefechtes behandelt werden. Doch die medizinischen Möglichkeiten waren begrenzt. Larrey begann daher, die Verletzten nach der Schwere ihrer Verwundung zu ordnen, um möglichst vielen das Leben zu retten. Er gilt heute als der "Vater der Notärzte" und der Erfinder der Triage, die er aber selbst nicht so nannte.
Woher kommt der Begriff Triage?
1808 taucht der Begriff erstmals in der Medizin auf, im Tagebuch eines Kollegen Larreys. Das französische Wort bedeutet "Auslese" und war bis dahin in der Produktion von Kaffee und Wolle üblich. Als nächster berichtet der russische Chirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow, wie er im Krimkrieg von 1853 bis 1856 die verletzten Soldaten sortierte. Schon in der ersten Station, dem Verbandsplatz, unterteilte er die direkt vom Schlachtfeld Kommenden in fünf Gruppen:
1. Hoffnungslose, 2. lebensgefährlich Verletzte, die sofort behandelt werden müssen, 3. Verletzte, die auch eine unaufschiebbare, aber präservativ-operative Hilfe verlangen, 4. Verwundete, bei denen die unmittelbare chirurgische Hilfe nur wegen eines schadlosen und bequemen Transportes notwendig ist, 5. alle Verwundeten, bei denen ein einfacher Deckverband oder eine Extraktion der oberflächlich liegenden Kugeln erfolgt.
Triage in den Weltkriegen
Im Ersten Weltkrieg wurde die Triage verfeinert, um mit den vorhandenen Ressourcen die Kämpfer zu retten, die wieder fit für die Front gemacht werden konnten. Die Schwerstverletzten, als "hoffnungslos" eingestuft, wurden nur behandelt, wenn Kapazitäten frei waren - doch das kam nach einem Gefecht selten vor. Im Zweiten Weltkrieg warb die Wehrmacht zwar mit der guten Versorgung der Soldaten bei Verwundung, doch dahinter steckte vor allem die Erhaltung der Kampfkraft, denn mit diesem Versprechen konnten die Soldaten besser motiviert werden. Die Schwerstverletzten fielen dann aber meist trotzdem durchs Raster, berichtet Robert Pfeiffer in seinem Aufsatz "Triage in Militär- und Katastrophenmedizin" im "Jahrbuch für kritische Medizin- und Gesundheitswissenschaften" 1983.
Auch nach den beiden Weltkriegen hatte die Triage im Militär nicht ausgedient. Die NATO setzte die "Emergency War Surgery" (Dringliche Kriegeschirurgie) 1958 unter gleichen Gesichtspunkten fort. 1961 erscheint die Übersetzung der Schrift in der Bundeswehr als Dienstvorschrift. Die Nichtversorgung hoffnungsloser Schwerverletzter wird immer damit begründet, dass sich in der Zeit, die zur Versorgung nötig wäre, der Zustand der weniger schwer Verletzten so weit verschlechtern könnte, dass es zu vermeidbaren Todesfällen kommen würde.
Nach 1945: Triage in der zivilen Notfallmedizin
Nach 1945 werden nach dem Vorbild der Militärmedizin Handlungsempfehlungen für zivile Katastrophen erarbeitet. In solchen Situationen geht es vor allem darum, unter schwierigen Bedingungen mit begrenzten medizinischen Ressourcen möglichst viele Opfer zu behandeln. Prof. Wolfgang Röse, Intensivmediziner aus Magdeburg, erinnert sich an das Zugunglück von Langenweddingen 1967. Damals starben 94 Menschen infolge der Explosion eines Tankwagens.
Der zu der Zeit leitende Chirurg an der Uniklinik in Magdeburg war im Krieg Arzt gewesen und übernahm die Planung. Alle Operationen wurden abgesagt, die Verletzten gesichtet und nach Transportfähigkeit auf verschiedene Krankenhäuser verteilt, ein Wachdienst an den Betten organisiert.
Wie Mediziner große Mengen von Patienten in kurzer Zeit bewältigen können, gehört heute zur Ausbildung. Die Kategorie "hoffnungslos", die bedeutet, dass die aufwändige Behandlung eines Schwerverletzten aufgeschoben wird, um in der Zeit mehreren anderen effektiver helfen zu können, musste in einem Katastrophenfall in Deutschland noch nie angewendet werden, berichtet Medizinhistoriker Dr. Florian Burns. Es stand immer schnell und ausreichend Hilfe zur Verfügung.
Triage als Folge einer Epidemie
Die zivile Triage kam aber schon in länger anhaltenden Situationen zum Tragen, erinnert Bruns. Er nennt als Beispiele die Zuteilung des seinerzeit neuen und knappen Penicillins in den späten 1940er-Jahren. Auch bei den Polio-Epidemien in den 1950er-Jahren standen nicht ausreichend "Eiserne Lungen" zur Verfügung. Als man begann, in den 1960ern nierenkranke Menschen mit Dialyse zu behandeln, gab es ebenfalls nicht genug Plätze für alle Bedürftigen.
In der aktuellen Covid-19-Pandemie kommt zwar Grundwissen aus Katastrophenfällen zum Einsatz, aber es handele sich nicht um eine Katastrophe, so Rechtsmediziner Prof. Bernd-Rüdiger Kern in einem Beitrag in "Der Notarzt" aus dem Juni 2020. Die vorhandenen Mittel seien nicht unzureichend, sondern nur im begrenzten Maße vorhanden. Die Überlegungen, wie sie eingesetzt werden, seien rein medizinisch zu begründen. Und Medizinhistoriker Bruns sieht auch Positives in der gegenwärtigen Situation. Mehr Menschen wüssten nun, was Triage ist, und diskutierten darüber. Das Klinikpersonal habe inzwischen Handlungsempfehlungen bekommen, an denen es sich bei solch schwierigen Entscheidungen orientieren könne.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 16. Dezember 2020 | 19:30 Uhr