Pandemie vor über 100 Jahren Die Spanische Grippe: Eine der tödlichsten Seuchen der Menschheit
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18. Dezember 2020, 15:36 Uhr
Von China über Italien und nun in Deutschland: Das Coronavirus hat sich innerhalb von nur zwei Monaten rasant über Kontinente hinweg verbreitet. Bereits vor mehr als 100 Jahren grassierte die Spanische Grippe, die 40 Millionen Tote binnen fünf Monaten forderte und eine einzigartige Spur der Verwüstung auf fast allen Kontinenten hinterließ. Allein an dieser Dimension gemessen, steht die Grippe-Pandemie des Jahres 1918 bis heute ohnegleichen da.
An der Spanischen Grippe sterben doppelt so viele Menschen wie in vier Jahren Weltkrieg zusammen. Und doch bleiben die Umstände dieser Katastrophe jahrzehntelang im Dunkeln - aus ganz unterschiedlichen Gründen. "Damals ging man davon aus, dass sie in Spanien aufgekommen sei, weil von dort - Spanien war kein kriegführendes Land, hatte also auch keine Zensurbestimmungen - diese Meldungen nicht zensiert wurden. Und so wurde, auch durch Gerüchte aus Portugal, das Ganze zur Spanischen Grippe erklärt", erläutert der Medizinhistoriker Winfried Witte, Autor des Buches "Tollkirschen und Quarantäne -Die Geschichte der Spanischen Grippe"
Woher kommt die Seuche?
Am ehesten hätte die Pandemie jedoch den Namen "Amerikanische Grippe" verdient. Denn dort taucht sie Anfang 1918 zuerst auf, in der ziemlich menschenleeren Gegend von Haskell County in Kansas. Auf den entlegenen Farmen diesen öden Landstrichs entdeckt der Landarzt Dr. Loring Miner merkwürdige Krankheitssymptome bei seinen Patienten: extreme Kopf- und Gliederschmerzen, hohes Fieber, Husten. Seine Diagnose: Grippe. Nur was für eine? Selbst junge, starke Farmer sterben dem Arzt plötzlich unter den Händen weg. Miner alarmiert den US Public Health Service. Dort winkt man ab. Denn 1918 ist die Grippe noch keine meldepflichtige Krankheit.
Dass wir heute wissen, wann und wo die Pandemie ihren Ausgang nahm, verdanken wir der Hartnäckigkeit dieses Landarztes. Denn Dr. Miner gibt ungeachtet des öffentlichen Desinteresses an seinen Patienten eine Warnung heraus: "Haskell County", schreibt er im Public Health Report, "ist der einzige Ausbruch 1918, der vermuten lässt, dass ein neues Grippevirus sich dem Menschen in heftiger Weise anpasst."
Genetischer Fingerabdruck eines Killervirus
Das Interesse an der Krankheit wächst schlagartig, als sie den Osten der USA erreicht und dort, vor allem in den zahlreichen Militärcamps, für katastrophale Zustände sorgt. Tausende Soldaten liegen plötzlich auf den Krankenstationen. Die Ausbildung der Rekruten für den Einsatz in Europa kommt zum Erliegen.
Pandemie Das Wort "Pandemie" wird benutzt, wenn sich eine Krankheit über mehrere Kontinente hinweg verbreitet. Wenn eine Krankheit in einem Gebiet ständig vorkommt und immer etwa gleich viele Menschen davon betroffen sind, spricht man von einer "Endemie". Im Gegensatz zur "Endemie" beschreibt die Epidemie das vorübergehende festgestellte Auftreten einer Erkrankung.
Das kann kein Zufall sein. Spekulationen machen die Runde, man habe es mit einer deutschen Kriegswaffe zu tun. Der weltweit agierende Pharmakonzern Bayer habe seine Aspirintabletten präpariert, verkünden die einen, während der Leiter der Hygieneabteilung der US-Werften eine andere Spur gefunden zu haben meint: Deutsche Agenten hätten Ampullen mit Keimen in die USA geschmuggelt und diese verteilt: "Jeder, der spuckt, hilft dem Kaiser!"
Warum ist der Erreger so aggressiv?
Die unbekannte Seuche, sie soll wenigstens die Kriegspropaganda befeuern, wenn man ihr schon medizinisch nicht beikommen kann. Tatsächlich hat das eingeschränkte Wissen um die Viruskrankheit einen nicht geringen Anteil am großen "Erfolg" der Krankheit. Viele Mediziner bezweifeln gar generell, dass ein solch heftiger Krankheitsverlauf zur gemeinen saisonalen Grippe passt. Das Rätselraten kommt nicht von ungefähr. Schließlich weiß man 1918 noch verdammt wenig über die Viruskrankheit. Noch nicht einmal der Viruserreger selbst ist bekannt. Bis 1933 geht die Medizin von einem Bazillus als Erreger aus. Nur, warum ist dieser eine so viel aggressiver als alle anderen zuvor?
Rekonstruktionsversuche
Seit den 1960er-Jahren bemühen sich amerikanische Forscher immer wieder, den originären Killervirus zu finden bzw. ihn aus organischem Material zu extrahieren. 2005 ist dies einem Team um den Pathologen Johan Hultin endlich gelungen. In Alaska heben die "Virenjäger" aus dem Permafrostboden das Massengrab von 72 Inuit aus. 1918 hatte die Spanische Grippe hier binnen fünf Tagen ein ganzes Dorf ausgelöscht. Anhand einer Probe aus der Lunge einer Frau, die von den Forschern "Lucy" getauft wurde, können die Bio-Archäologen den Bauplan des Virus rekonstruieren.
Den Erfolg ihrer Methode testen sie an gripperesistenten Mäusen. Mit - für die Forscher - umwerfendem Ergebnis: Die im US-Labor wiederauferstandene Seuche ist 90 Jahre später immer noch so tödlich wie 1918.
Nur: Was hat das Virus so aggressiv werden lassen? An dieser Frage wird bis heute geforscht. Mit immer neuen erstaunlichen Entdeckungen. Denn inzwischen gilt als sicher, dass der originäre Auslöser der Pandemie eine Vogelgrippe war. Bekannt ist, dass beide, die tierische wie die menschliche Influenza, permanenten Mutationen unterliegen, sich der Bauplan des Virus also fortwährend verändert. Und das im Jahr 1918 in einer Weise, vor der Wissenschaftler noch heute warnen: Dass nämlich die tierische Grippe direkt auf den Menschen überspringt und von dort aus immer weiter, wie in einem Dominospiel.
Kettenreaktionen - die zweite Welle
1918 wusste niemand von diesen Kettenreaktionen und der Möglichkeit weiterer Mutationen schon nach nur 10.000 Neuerkrankungen. Im Gegenteil: Angesichts des noch tobenden Weltkriegs und der Zensurtricks aller Kriegsparteien werden Schutzmaßnahmen ignoriert. Kriegsschiffe gehen weiter auf die Reise, mit Dutzenden Erkrankten an Bord. Die Truppenbewegungen zu und von den Fronten des Ersten Weltkriegs erweisen sich als großer Katalysator für eine Pandemie, wie sie die Welt in dieser Schnelligkeit und Drastik bis dato nicht erlebt hat.
So wird der Beginn der verheerenden zweiten Ausbruchswelle, Mitte August 1918, gleichzeitig an drei weit auseinanderliegenden Hafenstädten registriert: im französischen Brest, im amerikanischen Boston und im westafrikanischen Freetown. Das Virus hat nun eine dreißigfach erhöhte Mortalität gegenüber gewöhnlichen saisonalen Grippen. Und es trifft vor allem auf eine Zivilbevölkerung, die ausgepowert ist vom Krieg bzw. über keinerlei Abwehrmechanismen gegenüber diesem Killervirus verfügt.
Während die Grippe allein in Europa binnen wenigen Wochen 2,3 Millionen Menschen hinwegrafft, sieht die Bilanz in Afrika und Asien noch um ein Vielfaches erschreckender aus. Von 26 bis 36 Millionen Toten auf beiden Kontinenten geht die Wissenschaft heute aus. Allein in Indien fallen geschätzte 16 Millionen Menschen dem Virus zum Opfer.
Notfallpläne gibt es nur in den USA
Notfallpläne, Aufklärungsprogramme und Prophylaxe gibt es damals fast nur in den Städten der USA. Im Deutschen Reich begegnen die Behörden der Katastrophe kopf- und tatenlos. Im Angesicht der drohenden Kriegsniederlage wird die Macht einer Krankheit schlicht ignoriert: "Die offiziellen Stellen versuchten, möglichst wenig darüber zu reden, weil sie überhaupt keinen Lösungsansatz hatten. Auch die medizinischen Ansätze zur Therapie können eher als hilflos bezeichnet werden. Man hat versucht, das totzuschweigen", erzählt der Historiker Witte.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR Aktuell | 02.03.2020 | 11:10 Uhr