Die Geschichte der Schulglocke Gab es die Klingel eigentlich schon immer in der Schule?

15. November 2019, 13:35 Uhr

Kaum sind die Ferien vorbei, klingelt in den Klassenzimmern auch schon die Schulglocke. Vor dem 19. Jahrhundert klatschte der Lehrer noch in die Hände oder war als Küster unterwegs und läutete mit den Kirchenglocken den Unterricht an. Eine allgemeine Schulglocke war vor dem 19. Jahrhundert nicht bekannt.

Um welchen Gegenstand handelt es sich?

1908 beschrieb ein Schüler sie so: "Schon seit mehreren Jahren hänge ich im Flure der X. Schule in H. Ich erteile Befehle vom Morgen bis zum Nachmittag. Alles muss denselben folgen. Des Morgens lade ich die Kinder freundlich ein, diese folgen auch gerne. Den bösen Kindern aber ist mein Ruf ein harter Befehl, eine bittere Pille, die sie schlucken müssen."

Haben Sie erraten um was für einen Gegenstand es sich handelt? Die Rede ist von der Schulklingel. Diese Klingel löst Reflexe aus: Ein Ruck geht durch die versammelte Schülerschaft, ganz wie bei den pawlowschen Hunden. Pause! Doch dann, das Lehrerveto: "Der Lehrer beendet die Stunde". Wofür ist denn dann die Klingel da? Gab es die eigentlich schon immer in der Schule?

Als der Lehrer noch Schulwächter und Küster war

Früher war der Lehrer nicht nur der Wächter über die Unterrichtszeit an der Schule sondern über die Zeit eines ganzen Ortes. Oft war er gleichzeitig Küster der ansässigen Kirche. Seit dem 13. Jahrhundert gingen Schulmeister mehrmals täglich zum Kirchturm, um mit Glockengeläut hier ihr schmales Gehalt aufzubessern. Hierfür erhielten sie Getreideabgaben, die sogenannte Läutgabe, so beschreibt es das Grimmsche Wörterbuch.

Der Lehrer läutete immer dann, wenn etwas Wichtiges für die Gemeinschaft passierte. Es klingelte für den Gottesdienst frühmorgens (und damit auch dafür, dass die Kinder zur Schule gingen), bei Gewitter, zur Gerichtsverhandlung, zur Gemeindeversammlung und zum Beginn des Abends.

Schulglocke war vor dem 19. Jahrhundert unbekannt

Aber in der Schule klingelte es lange Zeit nicht. Eine allgemeine Schulglocke war vor dem 19. Jahrhundert nicht bekannt. Noch 1908 berichtet ein Schüler in einem Aufsatz zum Thema Schulglocke: "Meine beiden ersten Schuljahre verbrachte ich in der Schule zu E. Da wurde nicht geläutet, der Lehrer klatschte in die Hände, wenn wir in die Schule gehen mußten." Die Personalunion von Küster und Lehrer begann sich am Anfang des 19. Jahrhunderts aufzulösen. Ein alter Lehrer aus Neunhofen bei Neustadt an der Orla beschreibt im Mai 1832 wehmütig, wie er täglich den Kirchturm bestieg um hier seine Küsterdienste zu verrichten: "Die Pünktlichkeit, bei mir ein Erbstück, ward mir auch zur Haus- und Schultugend."

Für den Lehrer sei die Zeit ein objektives Vorkommnis. Darum ärgere ihn der Vetretungspfarrer. Dieser Pfarrer habe entweder "keine richtige Uhr" oder ginge vom "vornhmen Grundsatz aus, man werde nicht eher Kirche halten, oder taufen, als bis er da sei." Dabei war es gar nicht so einfach zu wissen wie spät es war. Der alte Arnim ermittelte zunächst die "Mittagslinie", später benutzte er die Sonnenuhr an der Kirche. Insofern wusste damals immer nur der Glöckner, ob jemand tatsächlich zu spät war. "In meinen ersten Amtsjahren hatte ich noch keine Taschenuhr, wie ihr Herren jetzt schon im [Lehrer-Ausbildungs-]Seminar", berichtet er.

Diese Erfindung veränderte alles. Plötzlich konnte jeder wissen wie spät es ist! Die sich wandelnden Zeiten ärgern den alten Schulmeister. Romantisch beschreibt er seine Wege des Morgens auf den Kirchturm, verklärt das tägliche Läuten und macht sich über seinen blassen Nachfolger lustig, der bis spätabends wach ist, aber gern in der Früh ruht "und das Morgenläuten überascht ihn bitter".

Schüler als Kirchenglöckner

Welche Macht hat der, der den Klingelknopf betätigen darf? Er bestimmt über Freizeit und Arbeit. Haben Sie einmal davon geträumt, dass Sie einmal selbst die Klingel betätigen dürfen, selbst die Stunde beenden? Anfang des 19. Jahrhunderts forderten die Lehrer ein, dass ihre Hauptaufgabe nur noch im Schulunterricht bestehe, und nicht darin auf den Kirchturm zu steigen um Glocken zu läuten. "Die Thurm- und Küsterdienste werden unseren, im Seminarien gebildeten, Lehrern begreiflicher Weise lästig genug," klagt der Herausgeber der Schrift "vom alten Schulmeister Arnim". Schule und Kirche werden immer mehr zwei getrennte Institutionen. Jedoch scheint die Küsterpraxis von Lehrern noch lange Bestand gehabt zu haben, bis mindestens in das Jahr 1889. Die lästige Arbeit des Kirchenglockenläutens wird jedoch jetzt gerne an die Schüler abgegeben.

Schulglocke eine "militärische Ordnung"

Eines Tages passiert dann ein Unglück. Kirchturmglocken fallen beim Läuten herab! Der zuständige preußische Minister erlässt im Jahr 1889 ein Gesetz, dass die Volksschullehrer ihre Schüler nicht mehr Kirchenglocken läuten schicken dürfen. Die Bezahlung der Lehrer soll nun anders geregelt werden, damit die Lehrer nicht auf die Erträge aus den Küsterdiensten verzichten müssen.

Ab 1870 sieht zudem der preußische Staat Schulglocken als wünschenswert für die Volksschulen an, so vermeldet es das "Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen". Jedoch will der Staat dafür nicht zahlen, sondern überlässt dies den Städten. So wesentlich war eine Schulglocke für den Schulalltag am Beginn der Deutschen Kaiserreichs noch nicht. Und so wehrt sich 1870 auch ein ostpreußischer Schulinspektor gegen die "militärische Ordnung" die mit der Schulglocke einziehe. Er fordert: "die Formen dürfen nicht starr und müssen den jedesmaligen Verhältnissen angepaßt sein. Eines schickt sich nicht für Alle." Das nun "jedes Kind mit dem Uhrenschlage an Ort und Stelle [sein soll], nicht früher, nicht später", sei für Schulen auf dem Land nicht umzusetzen.

Schließlich hätten die meisten Menschen hier keine Uhr - und wenn dann "differieren" sie voneiander. Auch hätten die Schüler sehr weite Wege zurückzulegen und könnten gar nicht pünktlich eintreffen. Pünktlichkeit ist keine allgemeine preußische Tugend, eine objektive Zeitnorm ist 1870 noch nicht überall eingezogen.

Die Schulglocke zieht in die Klassenzimmer

Knapp 40 Jahre später beginnt die Schulglocke dann langsam ihren Siegeszug an der deutschen Schule. Aber läuten durften nun - die Schüler selbst! 1909 beschreibt dies ein Schüler-Aufsatz: "Vor einigen Jahren erhielten wir in unserer Schule eine neue Glocke. Ihre Vorgängerin war eine alte Handschelle. Wer läutete, lief um die Schule herum. Die neue Glocke dagegen wurde an der Flurwand befestigt.

An dem Klöpfel ist ein Riemen angebracht. In der ersten Zeit betrachteten wir unsere Glocke mit Freude. Jeder wollte zuerst läuten. Schon vor Beendigung der Pause stellten wir uns an der Haustür auf. Mit Spannung erwarteten alle den Wink des Lehrers. War derselbe gegeben so stürmten wir auf die Glocke zu. Einmal hatte man derselben sogar den Klöpfel ausgerissen."

Pünktlich wie ein Roboter

Nun kehrt auch preußische Zucht und Ordnung in die Schule ein: "Zum erstenmal wird die Glocke um 5 Minuten vor 8 Uhr geläutet. Ist dieses geschehen so stellt sich die ganze Jugend in Reih und Glied. Um 9 und 10 Uhr ertönt abermals die Glocke. Jetzt öffnen sich die Türen. Die Schüler begeben sich auf den Hof. Dann wird abermals geläutet. Die Pause ist vorüber und die Schüler begeben sich in das Schulhaus. So gehts Tag für Tag morgens und nachmittags. Wenn wir am Spielen sind so ärgern wir uns immer, wenn die Glocke ertönt. Gleich müssen wir aufhören und schnell laufen. Wer zu spät in die Reihe kommt, muß sich melden."

Seit der Erfindung der mechanischen Schulglocke klingelt nur noch die Maschine - und erinnert damit an die Fabriksirene, die zum Schichtende ertönt. Vollautomatisch ergießt sich heute der Klingel-Schall auf Lehrer und Schüler. Einmal programmiert gibt der Schulgong den immer gleichen Takt vor. Dass maschinell-korrekte Pünktlichkeit mit regelmäßigen Klingeln ist jedoch ein sehr moderner Einfall. Flächendeckend existiert er erst seit höchstens 100 Jahren.

Über dieses Thema berichtet MDR auch im TV: "Was wurde aus der Volksbildung?" | 12.11.2019 | 22:05 Uhr