Warum hat eine Schulstunde 45 Minuten?
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29. August 2018, 16:40 Uhr
Deutsch, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften – eingeteilt sind all diese Fächer meist in Schulstunden von 45 Minuten. Woher stammt diese seit jeher umstrittene Taktung?
Noch 37 Minuten! – Mist. – Wie langweilig! – Vorne steht der Lehrer und erklärt Unerklärbares – Noch 36 Minuten! Wann klingelt es endlich zur Pause? Solche und ähnliche Gedanken kennen alle, die einmal eine langweilige Schulstunde erlebt haben. Zeit ist relativ, manchmal vergeht sie schnell und manchmal eben sehr langsam. Darum weiß jeder nur zu gut, dass eine Schulstunde 45 Minuten dauert. Woher kommt aber dieser Rhythmus? Schließlich hat eine Zeitstunde 60 Minuten.
Am Anfang war Preußen
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war eine Unterrichtsstunde tatsächlich 60 Minuten lang. Es war zudem üblich, dass Unterricht vormittags und nachmittags stattfand. Dazwischen gab es eine lange, dreistündige Pause, in der die Schüler nach Hause gingen. Häufig brachten sie in dieser Mittagspause ihren Vätern das Essen in die Fabrik oder aufs Feld und kehrten am Nachmittag wieder in die Schule zurück.
Lange Schulstunden schaden den Kindern
Die Nachmittagsstunden waren unbeliebt. Kritiker argumentierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass nach dem Mittagessen "die Verdauungstätigkeit" einsetze, "die einen hemmenden Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit ausübt. Ganz besonders störend wirken all diese Momente im Hochsommer, eine bleierne Schwere lastet dann oft auf der ganzen Klasse." Die neue Wissenschaft der experimentellen Psychologie führte "Ermüdungsmessungen an Schulkindern" durch und kam zu dem Ergebnis, dass die 60-Minuten-Taktung der Gesundheit der Kinder schade und für das Lernen nicht förderlich sei.
Die Wissenschaft empfahl daher, kleinere Kinder in 30-Minuten-Lektionen zu unterrichten, ältere Kinder in 45- oder 50-Minuten-Lektionen.
Nachmittagsunterricht entfiel
Am 22. August 1911 legte der preußische Kultusminister fest, "dass an allen höheren Lehranstalten die Dauer der Unterrichtsstunde allgemein auf 45 Minuten festzusetzen ist". Der preußische Erlass von 1911 orientierte sich an den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit den nun eingeführten sogenannten "Kurzstunden" von 45 Minuten konnten die 30 bis 32 Wochenstunden komplett auf den Vormittag gelegt werden. Der unbeliebte Nachmittagsunterricht entfiel, die Schüler hatten nun frei.
Eine umstrittene Entscheidung
Die "schulhygienische" Entscheidung war jedoch nicht unumstritten. Damit der Unterricht nur noch vormittags stattfinden konnte, mussten auch die Pausen zwischen den Stunden kürzer werden – ganz gegen die Erkenntnisse der experimentellen Psychologie, die längere Pausen mit fortschreitender Stunde gefordert hatte. Auch Lehrer waren nicht davon überzeugt, dass kürzere Zeit besseren Unterricht hervorbringe. Bereits 1906 wendete ein Lehrer gegen das verkürzte Stundenmodell ein: "Mir ist noch keine 55-Minutenlektion zu lang geworden und in 45 Minuten kann kein vernünftiger Unterricht stattfinden, die Zeit ist zu knapp." (Aus: Pädagogische Woche, 1906)
Ein anderer führte aus: "Freilich läßt sich's machen. Die Pensen werden erledigt, zweifellos, aber mich will bedünken, die Gefahr rückt nahe, dass wir Streckenarbeiter werden und das ein zu hastiges Tempo die Harmonie des Unterrichts stört. Das Frage- und Antwortspiel, das heute schon viel zu eifrig betrieben wird, macht dann die Gedanken der Schüler noch unruhiger, die jungen Leute kommen noch weniger als jetzt zum Aussprechen und zum zusammenhängenden Reden." (Aus: Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand, 1911)
Kurzstunde erleichtert den Unterricht
Zudem sollte, so erklärt das Lexikon der Pädagogik 1917, die Kurzstunde den Unterricht erleichtern, da nun Unterrichtszeit und -stoff auf das Wesentliche beschränkt werden müsse. Das Lexikon urteilte, dass der Erlass wohl aus Rationalisierungsgründen geschehen sei. Die Entscheidung des preußischen Kultusministers sei eine Sparmaßnahme: Mit dem Halbtagsunterricht solle in weniger Zeit mehr gelernt werden. Damit sei "die Halbtagsschule als das anerkannt, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein übler Notbehelf".
Weitgehend unangetastet
Nach dem preußischen Erlass setzte sich in Deutschland der 45-Minuten-Takt durch. Als am Ende der Weimarer Republik wieder ein 50-Minuten-Modell eingeführt werden sollte, protestierte die Lehrerschaft. Dieser Versuch gehe gegen die Gesundheit der Schüler und Lehrer und sei zu verhindern: "Nach einem fünfstündigen 50-Minuten-Unterricht ist es einfach ausgeschlossen, von jungen Leuten, die in der Entwicklungszeit stehen oder sie eben überwunden haben, irgendwelche geistige Anstrengung zu verlangen." Die preußische Verwaltung führte den 45-Minuten-Takt wieder ein. Dieser blieb bis in das jetzige Jahrhundert weitgehend unangetastet.
Das 45-Minuten-Modell – eine auslaufende Erfolgsgeschichte?
Während heute in Frankreich und den Niederlanden im 50- oder 60-Minuten-Takt unterrichtet wird, gibt es in Finnland, Großbritannien und Polen ähnlich wie bei uns das 45-Minuten-Modell. Mit Argumenten, die stark an die aus dem auslaufenden 19. Jahrhundert erinnern, wird der 45-Takt hierzulande aber zunehmend kritisiert: Er sei zu starr, presse den Lehrstoff in zu wenig Zeit, verbreite Hetze und Unruhe. Darum entschließen sich jetzt immer mehr Schulen, im 60- oder 90-Minuten-Takt zu unterrichten. Allen neuen Unterrichtsmodellen zum Trotz: Die 45-Minuten-Einheit bleibt die Währung der Schulleitung. Jede Lehrerstelle wird, laut Schulgesetz, mittels der 45-Minuten-Einheit verwaltet. Eine 60-Minuten-Stunde ist laut Schulverwaltung eine 1 1/3 Stunde. Die 45 Minuten leben als Takt also fort, und sei es auch nur verdeckt in der Schulverwaltung.
Robert Kluth Kluth ist Historiker und Ausstellungskurator und hat u.a. für deutsche und amerikanische Museen gearbeitet. Er hat Geschichte und Philosophie an einem Berliner Gymnasium unterrichtet. Erreichbar ist er via https://twitter.com/Zickzackzuck.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: "Was wurde aus der Volksbildung?" | 12.11.2019 | 22:05 Uhr