Meine Geschichte Hellmuth Karaseks Jugendjahre in Bernburg
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21. Oktober 2015, 12:22 Uhr
Er galt als Literaturpapst: Hellmuth Karasek. Anlässlich seines 80. Geburtstags kehrte er noch einmal an den Ort zurück, an dem er den Großteil seiner Schulzeit verbrachte: Bernburg in Sachsen-Anhalt. Für Karasek eine prägende Zeit.
Die Aula des Gymnasiums Carolinum in Bernburg: Der Schulchor singt, eine Lehrerin begleitet die Schüler mit der Gitarre. An einem Tisch im Publikum sitzt Hellmuth Karasek, in rosa Hemd und Jacket. Ihm gilt das Ständchen und er ist sichtlich gerührt. Mehr als sechzig Jahre ist es her, dass Hellmuth Karasek hier, wo er so herzlich empfangen wird, sein Abiturzeugnis bekam. Das war 1952 und der junge Karasek hatte den besten Abschluss der Schule. Als Belohnung winkte ein Studium in Moskau, was in der DDR als Sprungbrett für eine Karriere galt und ein Grund zur Freude war - nicht aber für den Schulprimus Karasek:
Für mich war die Vorstellung, nach Moskau zu kommen, ungefähr wie: 'Du kommst direkt in die Hölle.' Ich hatte vor der Roten Armee und vor dem Stalinismus so eine derartige panische Angst, wie ich das nie zuvor erlebt hatte.
Flucht aus Schlesien
Hellmuth Karasek wird 1934 im tschechischen Brünn als ältestes von fünf Kindern geboren. Von dort geht die Familie nach Wien und zieht 1940 nach Bielitz in Schlesien, die Heimatstadt von Karaseks Vater. Im Herbst 1943 besucht der junge Hellmuth Karasek im ersten Jahr die Oberschule. Dort werben Lehrer für die Nazi-Eliteschule "Napola" in Loben, an der Ostgrenze von Oberschlesien. In ihren Augen ist Karasek genau der richtige Schüler: arisch, aufgeweckt, Opa, Oma, Vater, Mutter und zwei Onkel in der Partei. Damals gab es in Großdeutschland etwa 36 Nationalpolitische Erziehungsanstalten, die erst von der SA, dann von der SS beaufsichtigt waren. Nach der Probewoche, die vor allem aus sportlichen Prüfungen besteht, wird Karasek an der "Napola" aufgenommen. Wie er in seiner Autobiografie "Auf der Flucht" schreibt, hatte er damit etwas erreicht, was er gar nicht erreichen wollte - er hatte sich selbst aus seiner behüteten Kindheit und seiner Familie vertrieben.
Als Karasek zehn Jahre alt ist, flieht die Familie vor der Roten Armee von Bielitz in Schlesien ins Erzgebirge und landet schließlich in Bernburg. Die anhaltische Stadt liegt malerisch an der Saale, ist vom Krieg weitgehend verschont geblieben und macht mit Schloss, Theater und hübschen Bürgerhäusern Eindruck auf Karasek. In seiner Autobiografie schreibt er, ihm sei klar, was für ein "Dörfler, Provinzler, Kleinstädter" er bei der Ankunft in Bernburg noch gewesen war. Zum ersten Mal sei er in einer Stadt, in der es nicht nur eine Burg mit Bärenzwinger, ein Theater, ein Symphonie-Orchester und eine intakte Blumen-Uhr gab, sondern auch ein winziges Bordell mit vielleicht zwei, drei Zimmern.
Hoffnung auf ein besseres Leben
In den ersten Nachkriegsjahren bestimmt Hunger den Alltag, auch bei den Karaseks. 1946 geht Hellmuth Karasek noch nach der Ernte aufs Feld, um übrig gebliebene Ähren oder Kartoffeln zu suchen. Doch in Bernburg ist die Lage nicht mehr so sehr angespannt: Einige Kilometer außerhalb von Bernburg bekommt Karaseks Vater Arbeit in einer Tischlerei. Eine Freundin des Vaters, von Karasek "Tante Martel" genannt, hilft bei der Wohnungssuche.
Zur Schule, in seiner Erinnerung ein "wuchtiger, rotziegeliger Bau", kommt der junge Karasek jeden Morgen mit der Fähre, die direkt hinter dem Haus übersetzt. Die Brücken über der Saale sind damals noch gesprengt. Vom Fähranleger muss er dann den Berg hinauf in die Altstadt. An geduckten, ebenerdigen Häusern geht es in den Schulhof, wo sein damaliger Klassenlehrer schon auf ihn gewartet haben soll, ihn aber wohl nie beim Zuspätkommen erwischte. Das Gymnasium heißt Karl-Marx-Oberschule, Karaseks Lehrer aber stammen fast alle aus der Zeit vor 1945.
Wahlschlepper gegen den Marshallplan
1948 werden die Bernburger aufgefordert, gegen den Marshallplan zu stimmen und die Wirtschaftshilfe aus Amerika abzulehnen. Der Schüler Karasek wird zum "Wahlschlepper" verpflichtet und hilft alten Menschen, zur Wahlurne zu gelangen. Das Ergebnis ist vorhersehbar: Der ganze Ostblock stimmt damals gegen den Marshallplan. Dies macht Karasek zum verzweifelten Gegner der so genannten Volksdemokratien, da ihm klar ist, dass sich die meisten Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone eine freie Abstimmung gewünscht hätten.
Damals wurden wir als Schüler genötigt, Wahlschlepper zu machen für die Abstimmung gegen den Marshallplan. Der ganze Ostblock hat damals gestimmt: 'Wir brauchen keinen Marshallplan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an'. Wir hätten nix lieber gehabt, als einen Marshallplan.
Laut aussprechen will das in Bernburg aber niemand, auch Karasek und seine Schulkameraden halten sich zurück, aus Angst vor Repression. Sie wollen "durchkommen", sich nicht provozieren lassen, bloß keine Fehler machen. Ein Freiraum ist für Karasek die Musik, Rhythm'n'Blues, Louis Armstrong oder Ella Fitzgerald. In Bernburg gibt es zu seiner Schulzeit zwar keine Jazzkeller, aber einen kleinen Tanzraum, in dem jeden Freitag und Samstag eine Combo spielte. Dort sitzt der 16-jährige Karasek jeden Freitag allein, lauscht der Musik und träumt von einer besseren Zukunft. Nach dem Abitur 1952 ist sie da: Hellmuth Karasek steigt in den Zug nach Berlin, geht über die Sektorengrenze und meldet sich mit zwei seiner Schulkameraden bei der nächstbesten Polizeiwache: "Hier sind wir. Wir kommen aus der DDR. Wir wollen in den Westen." Karasek wird von Berlin-Tempelhof nach Hamburg-Fuhlsbüttel ausgeflogen. Die Bundesregierung charterte für die Republikflüchtlinge Flüge der PanAm und der Britisch Airways, weil es, wie Karasek in seinen Erinnerungen schreibt, undenkbar gewesen wäre, die Flüchtlinge, die im Notaufnahmeverfahren den Status "politische Flüchtlinge" erhalten hatten, über Schiene und Straße von Westberlin nach Westdeutschland zu schaffen. "Wir wären unweigerlich von der Volkspolizei, den Grenztruppen der DDR, schon bei der Ausfahrt aus Westberlin aus Zügen und Bussen den Strafbehörden zugeführt wurden." Die Flucht endet für den 18-jährigen Karasek mit der Ankunft in der Freiheit. - Am 29. September 2015 starb Hellmuth Karasek mit 81 Jahren in Hamburg.