Standortarzt Auschwitz Eduard Wirths: Ein Täter aus unserer Mitte
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28. Januar 2023, 05:00 Uhr
Eduard Wirths war von 1942 bis 1945 Standortarzt in Auschwitz und damit Chef von Josef Mengele. Er überwachte unter anderem die Vergasungen im Konzentrationslager. In seinem Heimatort Geroldshausen stand sein Name lange auf einem Denkmal für die Weltkriegsopfer.
Zwei Schritte macht Gunther Erhardt noch, dann zieht er seinen rechten Handschuh aus und wischt den Schnee von der Gedenktafel und dem kleinen Koffer aus Stein daneben. "Das hier erinnert an die jüdischen Mitbürger, die zu unserer Gemeinde gehört haben und die von hier aus deportiert wurden. Wir haben lange nach einem würdigen Platz für das Denkmal gesucht."
Nun steht der sogenannte "DenkOrt" gegenüber dem Bahnhof des kleinen Ortes Geroldshausen in Unterfranken, in dem Erhardt seit 2019 Bürgermeister ist. "Dieses Denkmal war uns allen im Ort hier wichtig, denn das waren ja quasi unsere Nachbarn. Und wenn man sich das, auf die heutige Zeit übertragen, mal überlegt: Der Nachbar geht weg, verabschiedet sich noch, sagt: 'Oh, ich habe jetzt eine weite Reise vor mir'. Und irgendwann kommt dann raus, dass er umgebracht wurde."
Eduard Wirths stammte aus Geroldshausen
Erhardt bewegt diese Vorstellung sichtlich. Er spüre eine besondere Verantwortung. Nicht nur, weil zahlreiche Opfer des Holocausts von hier kamen, auch der Name eines Täters ist eng mit Geroldshausen verknüpft: Dr. Eduard Wirths. Bis vor Kurzem stand dieser Name noch auf dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, das mitten im Ort auf einer kleinen Anhöhe thront. Bis heute unerklärlich für Erhardt.
Eduard Wirths überwachte Zyklon-B-Lieferungen
Eduard Wirths war Standortarzt in Auschwitz, war mit gerade einmal 33 Jahren der Chef von Josef Mengele und Carl Clauberg. 1942, als er nach Auschwitz kommt, ist er schon eine feste Größe in der SS. "Er hatte umfassende Aufgaben hier", sagt Teresa Wontor-Cichy, Historikerin in der Gedenkstätte Auschwitz. Von der Medikamentenbeschaffung über die Buchführung. "Außerdem war er bei der Ankunft neuer Häftlinge an der Rampe dabei. Und eine seiner wichtigsten Aufgaben: Er entschied, wann die Türen der Gaskammern wieder geöffnet wurden, nämlich, wenn sich niemand mehr bewegte darin. Er bestellte auch das Blausäuregas Zyklon B, das zur Tötung verwendet wurde."
Die Dokumente, die den Krieg überdauert haben, zeigen auch, dass Wirths seine Stellung nutzte, um seinem Bruder Helmut Zugang zu Versuchspersonen zu verschaffen. Er war Gynäkologe an der Frauenklinik in Hamburg-Altona.
Teresa Wontor-Cichy läuft mit schnellen Schritten zwischen den roten Backstein-Baracken durch, die das Stammlager Auschwitz I prägen. Ihr Ziel: Block 10, originalgetreu erhalten. "Hier waren die Frauen interniert, die für medizinische Experimente missbraucht wurden. Helmut Wirths hat hier seine Forschungen zu Gebärmutter-Krebs vorangetrieben." Viele Ärzte haben die große Zahl an Versuchspersonen, die durch die Konzentrationslager im Dritten Reich zur Verfügung standen, nutzen wollen, haben Anträge gestellt, in den Lagern forschen zu dürfen, erzählt Wontor-Cichy. Genehmigt wurden nur einige. "Hätte sich Helmut Wirths zum Beispiel in Ravensbrück gemeldet, hätte er wohl keine Erlaubnis erhalten. Hier in Auschwitz aber half ihm die herausragende Stellung seines Bruders als Standortarzt."
Hat KZ-Lagerarzt Eduard Wirths Juden gerettet?
Trotzdem ist Eduard Wirths der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Im Gegensatz zu Josef Mengele oder Carl Clauberg ruft Wirths' Name kein Schaudern hervor. "Er stand nie vor Gericht, hat also nie öffentlich ausgesagt. Vielleicht wüssten wir sonst heute mehr über ihn", vermutet Wontor-Cichy. Wirths starb am 20. September 1945 an den Folgen eines Suizidversuches in britischer Kriegsgefangenschaft.
Seine Rolle oder gar Schuld in der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten leugnete er bis zum Schluss. Das zeigen Vernehmungsprotokolle. Wirths behauptete sogar: "Es ist sicher nicht überheblich, wenn ich heute ausspreche, dass es wohl mein Verdienst ist, wenn in Europa heute Juden überhaupt noch am Leben sind." Wontor-Cichy erklärt sich diese Aussage so: "Ab einem gewissen Punkt fehlten zahlreiche Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft. Dann wurden selbst Juden, die Verletzungen oder ansteckende Krankheiten hatten, hier von den Lagerärzten behandelt, sodass man sie dann zum Arbeitseinsatz schicken konnte. Vielleicht hat er das als 'Rettung von Juden' interpretiert."
Geroldshausen entfernt Wirths' Namen vom Kriegerdenkmal
In Geroldshausen, seinem Heimatort, ist sein Name mittlerweile vom Denkmal für die Gefallenen der zwei Weltkriege verschwunden. Der Gemeinderat habe sich einstimmig dafür entschieden, sagt Bürgermeister Erhardt. "Wir waren ehrlich gesagt überfordert damit, wie wir mit dem Denkmal umgehen." Die Gemeinde hat sich Hilfe vom Auschwitz-Komitee geholt. Jetzt prangt ein heller Fleck an der Stelle, an der einst der Name Dr. Eduard Wirths stand. Am Zaun rund um das Denkmal ist eine Tafel angebracht. Auch da sucht man den Namen Wirths vergeblich. Nur der Hinweis, dass "einer der Täter aus unserem Dorf und aus unserer Mitte kam", findet sich. Es solle eine Mahnung sein für die Zukunft, sagt Erhardt. Eine Mahnung, dass so etwas wie der Holocaust nie wieder geschehen dürfe.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 29. Januar 2023 | 22:20 Uhr