Die Kunst zu verängstigen und zu demotivieren "Feindflugblätter" im Zweiten Weltkrieg: Propaganda und Gehirnwäsche von oben
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06. Januar 2021, 10:10 Uhr
Sie sind ein Phänomen militärischer Propaganda: die sogenannten Feindflugblätter. Ein neues Buch mit über 80 Beispielen aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass es sich lohnt, diese Ein-Blatt-Drucke genauer anzuschauen. Denn die darin bereits angewandten Techniken emotionaler Erpressung erfreuen sich bis heute größter Beliebtheit.
Wer Irritation stiften will, Unsicherheit oder Angst, ist mit einer simplen Reihung einfach anmutender, im Detail aber perfider Fragen, gut bei der Sache. Schon im Ersten Weltkrieg wurde mittels Flugblättern Stimmung bei der Bevölkerung, vorrangig aber bei den feindlichen Soldaten, gemacht. England beispielsweise druckte bis Ende des Ersten Weltkrieges über 21 Millionen Flugblätter und verbreitete diese mittels Flugzeug, Ballon oder Kanone. Doch im Zweiten Weltkrieg wurde die auf Papier gedruckte Stilstik der Feindpropagandakompagnien durch das bereits erworbene Werbe-Knowhow und Zielgruppen-Differenzierung auf nicht gekannte Spitzen getrieben.
Ein frühes Beispiel haben die Herausgeber des Buches "Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs" im März 1940 gefunden. Damals, im sogenannten "Sitzkrieg", hat die französische Seite diese kleine Flugschrift in den gegnerischen Reihen platziert. Zu einem Zeitpunkt, als England und Frankreich zwar schon dem Deutschen Reich den Krieg erklärt haben. Aber der deutsche Einmarsch in Frankreich - er wird im Frühling 1940 erfolgen - noch bevorsteht. Es ist eine Zeit, in der sich beide Seiten belauern - aber keine größeren militärischen Initiativen ergreifen.“ Diese Starre, das quälend lange Warten, zehrt am Nervenkostüm. Und die Franzosen geben dieser mulmigen Stimmung noch etwas Futter und setzen ein Flugblatt ab mit einem rätselhaften Fragenkatalog.
Über das bunte Sammelsurium an "Warum"-Fragen wird der deutsche Landser förmlich "gespickt" mit absonderlichen Informationen:
Warum gibt es so viele Eisenbahnunglücke im Dritten Reich? Warum hat Hitler eine Geheimlehre für die Parteispitzen?
Die versteckte Botschaft: Landser, hast Du noch nie von dieser Geheimlehre gehört? Siehst Du, so gut funktioniert sie bereits die Vertuschungsmaschinerie Deiner Führung! Der "besorgte" Verfasser des Flugblatts meint es nur gut. Und überreicht quasi nebenher die eigentliche toxische Dosis. Denn Lesen und Besitz dieser Propagandamittel sind streng verboten. Das heimliche Aufbewahren nur eines einzigen Exemplars könnte der Besitzer mit dem Leben bezahlen. Und genau darum, erläutern die Herausgeber Moritz Rauchhaus und Tobias Roth, geht es bei der ganzen Geschichte: Geschickt unter die Deckung zu kriechen. Alle Abwehrreflexe zu unterlaufen. Der Kopf des Soldaten, so oder so, als Trophäe.
Moritz Rauchhaus und Tobias Roth haben in aufwendiger Recherche Tausende von Flugblättern gesichtet und analysiert und ihre Erkenntnisse im Buch "Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs" herausgegeben. Über ihre Arbeit sprechen sie im Interview mit Nils Werner.
Für Ihr Buch haben Sie in erster Linie auf eine Sammlung zurückgegriffen. Die der Staatsbibliothek Berlin. Wie kam es?
Moritz Rauchhaus: Ich war dort eigentlich in ganz anderer Mission unterwegs, als Christiane Caemmerer, die die Flugblätter dort katalogisiert, mich auf ein paar Exemplare aufmerksam machte. Da war ich sofort hellwach und habe dann gefragt, ob es denn davon noch mehr gibt. Ihre Antwort: "Etwas mehr als 23.900 andere haben wir da noch!" Als ich mir dann einen signifikanten Teil davon habe zeigen lassen, war klar: Das wird unser nächstes Projekt.
Hinter diesen Tausenden von Flugblättern stand ja eine gewaltige Maschinerie. Sie schreiben im Buch, dass allein die sowjetische Seite im Dezember 1941 rund 300 verschiedene Flugblätter für den deutschen Feind produzierte. Also an jedem Tag zehn neue. Hat sich das denn wirklich gelohnt?
Tobias Roth: Das ist schwer zu sagen, weil es dazu kaum Quellen gibt. Logischerweise. Denn wer mit so einem Flugblatt erwischt wurde, konnte nicht mehr drüber sprechen. Fakt ist aber, dass auf ganz vielen dieser Flugblätter auf der Rückseite ein Passierschein gedruckt ist. Der - so die Botschaft - eine geordnete Kapitulation des Adressaten ermöglichen soll. Dass das eine lebensbedrohliche Lebensversicherung ist, steht da natürlich nicht drauf. Es gibt aber einzelne belastbare Anekdoten, die die Tragweite erkennen lassen, die solche Blätter für den einzelnen Leser haben konnten. Ich habe z.B. inzwischen die Erzählung von einem Großvater überliefert bekommen, der an der Ostfront war und jahrelang in seiner Uniform ein solches sowjetisches Flugblatt eingenäht hatte, um im Falle des Falles einen Passierschein dabei zu haben.
Rauchhaus: Der schiere Umstand, dass bis in die allerletzten Momente des Spätfrühjahres '45 vierfarbige, riesige Flugblätter auf allen Seiten produziert werden, spricht auch dafür, dass da durchaus was da war an belegbarer Wirkung.
Anders als bei sonstigen Produkten der Kriegspropaganda ist die Zielstellung dieser Blätter ja erst mal völlig konträr. Sie sollen Soldaten demotivieren, vom Kämpfen abhalten. Welcher Mittel hat man sich denn da bedient?
Roth: Da gibt es wirklich die verschiedensten Positionen. Es gibt die ganz offenen á la "Ich bin ein deutsches Flugblatt. Ich richte mich an amerikanische und britische GI's und wenn ihr nicht aufhört mit dem Kämpfen, dann bringen wir Euch alle um." Es gibt aber auch alle vorstellbaren Grade von Verschleierung.
Rauchhaus: Das führt unter anderem dazu, dass in manchen Fällen auf den ersten Blick gar nicht klar ist, wer hat dieses oder jenes Flugblatt überhaupt hergestellt. Die Sowjets oder die Amerikaner? Das heißt: Da steckt immer auch ein Spiel von Grenzgängerei drin.
Roth: Also das hat uns wirklich auch nachhaltig fasziniert, wie hier Propagandakunst immer wieder als verschleierte oder eben auch nicht verschleierte Demotivation in Erscheinung tritt.
Welche Unterschiede gibt es in der psychologischen Kriegsführung bpsw. bei den Amerikanern?
Roth: Was mir von all diesen Blättern am besten gefallen hat, ist das "Ei ssörender"-Blatt. Da wurde von alliierter Seite aus ganz schlicht, ganz schnell, wie mit einem Stempel auf einem crispig billigen Papier drauf gedruckt "Ei Ssörender". Also lautsprachlich 'Ich ergebe mich'. Dieses Blatt ist ja von 1945 und da sieht man schlagartig das ganze Chaos, das da herrschte. Und merkt auch, wie schwer es dann ist, nicht nur aufgeben zu wollen, sondern vielleicht auch aufgeben zu können und sich dieser inneren und äußeren Uniform zu entledigen. Wenn einem, wie das Blatt ja wach ruft, einfach die Sprachkompetenz fehlt, um diesem Willen überhaupt Ausdruck zu verleihen? Da wird wirklich auf einen Schlag ganz viel von dieser Textsorte entschlüsselt. Und auch gezeigt, auf welche Bedingungen der Lektüre, auf welche Geschwindigkeit der Lektüre auch, diese Dinger reagieren müssen.
Rauchhaus: Mir hat auch in diesen Blättern von Klaus Mann sehr gefallen, wie dieser höchstausgebildete Intellektuelle, per Flugblatt mit Leuten kommunizieren musste, die keine einzige Form seiner Bildung in irgendeiner Weise auch nur wertschätzen würden oder gehabt haben. Und dann steht da manchmal drauf: 'Komm in Kriegsgefangenschaft und Du wirst nach der Genfer Konvention behandelt'. Und dann haben wir uns angeguckt: Versteht die Soldaten das? Wissen die überhaupt, was damit gemeint ist? Da fängt man dann an, diese Blätter von heute aus zu lesen und zu merken: Niemand in der Armee, auch in der Hierarchie über ihm, kann so eine Formulierung ja ablehnen, weil das der gängige Code ist. Aber ob das wirklich angemessen war im Hinblick auf den eigentlichen Adressaten?
Und bei den Deutschen ist es dann Antikriegsbewegung plus Antisemitismus?
Rauchhaus: Was im Laufe der Kriegsjahre auch klar zu sehen ist, dass alle Seiten wirklich gegenseitig voneinander lernen. Und dass die miteinander "wachsen". Also die Blätter werden besser, sowohl ästhetisch als auch in ihrer Raffiniertheit.
Roth: Da gibt es zum Beispiel diese berühmte amerikanische Phrase "rich mans war, poor mans fight" - der Reiche gewinnt durch den Krieg, der Arme verliert. Und da sieht man in den Blättern der Deutschen, wie in so einer ausgeforschten oder ausgedachten Weise Traditionen verschmolzen werden. Beziehungsweise verknüpft werden mit dem eigenen Antisemitismus.
Der Slogan selbst ist in Amerika schon seit dem Bürgerkrieg bekannt. Und er ist in der angelsächsischen Welt auch immer wieder im Rahmen von Anti-Kriegs-Demonstrationen aufgetaucht. Ob die deutsche Seite wirklich gewusst hat, ob sie die Amis mit diesem Slogan und dieser antisemitischen Verknüpfung kriegen – das muss offen bleiben. Fakt ist aber, dass das Verschießen der Flugblätter mit einer Haubitze oder mit einer Bombe immer mit möglichster Präzision geschah. Und das es überhaupt nicht gleichgültig war, wer da jetzt welche Variante eines Flugblatts abbekam. Im Gegenteil: Da wurde wirklich permanent und minutiös recherchiert und je nach Faktenlage so eine Vorlage auch immer wieder umgearbeitet.
In Punkto Verschleierung der eigenen Absichten greifen die Deutschen ja aber auch zu ganz anderen perfiden Inszenierungen. Im Buch gibt es da die sogenannte Georgia-Serie, die vordergründig aus verschiedenen Pin-Ups besteht. Verbunden mit der Aufforderung, jedes Blatt dieser Serie zu sammeln.
Roth: Ja, das ist natürlich infam. Dieser Sammelimpuls, der da bewusst getriggert wird.
Rauchhaus: Die Vorderseite funktioniert ja, wenn man das festklebt am Spind, als reiner Blickfänger. Erst, wenn man anfängt das umzudrehen, fängt das ganze Spiel an: Was steckt da eigentlich dahinter? Und da tappt der tumbe Soldat möglicherweise eben in die Neugierfalle, weil er die Intention nicht sofort erkennt. Insofern sind die Blätter dieser Georgia-Serie geradezu paradigmatisch für diese ganze Feindflugblatt-Sammlung: Denn hier steckt immer etwas dahinter.
Roth: Das heißt, nicht mal das allerprivateste Verlangen ist frei von Feindinteressen. Das ist genauso wie bei diesen Flugblatt-Ratschlägen zur Selbstverstümmelung. Am Ende gewinnt immer das Flugblatt. Sobald es in die Hand genommen wird. Ob ich, weil ich mit dem Flugblatt erwischt werde, aus dem Verkehr gezogen werde. Oder ob ich aufgebe und damit aus dem Verkehr gezogen werde. Oder ob ich mich, wie dargestellt, verstümmele: Die destruktive Kraft, die steckt in dieser Flugblatt-Form so geballt drin, dass man es kaum verletzungsfrei berühren kann.
Es gibt so viele Blätter, wo man immer wieder überrascht wird. Und dann gleichzeitig ganz vertraute Momente hat. Insbesondere durch die Zusammenarbeit mit unserem Gestalterbüro sind wir diesem Aspekt noch mal ganz neu und ganz anders auf die Spur gekommen.
Das war wirklich eine beeindruckende Szene, als wir mit ihnen zusammen zur Staatsbibliothek sind und da noch mal die Vorauswahl begutachtet haben. Ich war total baff, dass die Gestalter aus ihrem Gewerk heraus sofort gewisse "Trademarks" wiederkannt haben. Also mit gewissen Typografien und Stilistiken sofort was anfangen konnten, weil sie die aus der Werbesprache der 'goldenen' Zeit der 50er- und 60er-Jahre kannten und bislang auch nur dort verortet hatten. Da hat sich dann einfach auch noch mal eine personelle Kontinuität gezeigt von dieser Zeit der Kriegswirtschaft hinüber zur Zivilwirtschaft. Und dadurch haben wir auch entdeckt, dass es einfach strategische Denkfiguren gibt. Dass man viel über seinen Feind wissen muss, um die verschiedensten Formen indirekter emotionaler Erpressung anzuwenden.
Das ist ja eine Gestaltungstaktik, die uns heute aus der Werbung sehr vertraut ist. Und es ist schon aufregend, wenn man die plötzlich quasi am Kriegsschauplatz wiederentdeckt. Und das macht es ja auch zu einer sehr fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wenn man merkt, wie stark man selbst dabei involviert ist. Wie man sich immer wieder dabei ertappt, wie man buchstäblich reinfällt, kurz überlegt: "Aber ist das nicht doch …" – und vergisst, dass dieses Blatt vor einem wirklich eine Waffe ist, während man eben gerade noch glaubte, das sei nur Kommunikation.
Das heißt, es geht eigentlich permanent darum, die Adressaten irgendwie zu überlisten, zu täuschen und zu locken, um ihren "inneren Panzer" aufzubrechen?
Rauchhaus: Ja, man muss sich, wenn man die Beispiele durchblättert, halt immer wieder vor Augen führen, dass in jedem einzelnen Fall es den Adressaten strengstens verboten war, dass zur Kenntnis zu nehmen. Also da bestand wirklich Lebensgefahr. Und damit sind diese Feindflugblätter, das ist das einzigartige, wirklich das komplette Gegenteil der üblichen Propaganda. Gleichwohl wurden dafür die gleichen immensen materiellen Ressourcen bereitgestellt. Für eine praktisch fast inexistente Leserschaft.
Über das Buch
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges werden von allen beteiligten Nationen jeweils mehrere Milliarden Flugblätter über den Fronten und dem Hinterland verschossen, mit Bomben abgeworfen und von Hand zu Hand weitergegeben. Heute schlummern diese eigenartigen Zeugen des Krieges in den Archiven.
Feindflugblätter sind eine Sonderform des auch aus Friedenszeiten bekannten Flugblattes, sie wenden sich direkt an den Kontrahenten im Krieg. Sie versuchen, seine Sprache zu sprechen, ihn zu demotivieren und zum Aufgeben zu bringen. Ihre Auflagen erreichen schwindelerregende Höhen, ihre Bildgewalt und psychologische Tücke ist überwältigend und ihr Besitz ist strengstens verboten. Der Zweite Weltkrieg hat auch diese Form der Propagandakunst auf ein neues Niveau gehoben, und damit deutliche Spuren in der Bildsprache und Typographie des 20. Jahrhunderts hinterlassen.
Die Spannweite der hier versammelten 85 amerikanischen, britischen, französischen, sowjetischen und deutschen Blätter reicht vom kleinen Gedicht auf magerem Papier über das aufwendige, knallbunte Comic bis hin zu Ratschlägen zur Selbstverstümmelung, die sich in Streichholzbriefchen verbergen. Die Auswahl wird von Moritz Rauchhaus und Tobias Roth vorgestellt und erläutert. Abgerundet wird der Band durch ein Nachwort von Dr. Christiane Caemmerer, der langjährigen Leiterin der Einblattabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, deren Sammlung etwa 24.000 Flugblätter aus dem Zweiten Weltkrieg umfasst.
Moritz Rauchhaus / Tobias Roth (Hrsg.): Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs.
Mit einem Nachwort von Christiane Caemmerer. Durchgängig vierfarbig gebunden, mit Kopffarbschnitt, Prägung und Lesebändchen 288 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-946990-41-3. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis