Zweiter Weltkrieg 1945: Kriegsende in Mitteldeutschland
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08. Mai 2023, 13:54 Uhr
Im Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Mitteldeutschland wird in den letzten Monaten ein Brennpunkt des Kampfgeschehens. Zehntausende Zivilisten und Soldaten sterben durch Bomben, blutige Kämpfe sowie Kriegs- und NS-Verbrechen. Was zwischen Januar und Mai 1945 in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geschah.
Bombenangriffe auf Städte und Industrieanlagen, gefallene und vermisste Väter, Brüder und Söhne, zehntausende Kriegsversehrte, Flüchtlinge, Ausgebombte und Evakuierte. Auch in Mitteldeutschland sind die Schrecken des Zweiten Weltkrieges Anfang 1945 allgegenwärtig.
Verheerende Bombenangriffe
Außer Leipzig, das Ende 1943 schwer getroffen wird, bleiben den meisten mitteldeutschen Städten großflächige Zerstörungen im Bombenkrieg zunächst erspart. Das soll sich ab 1945 ändern: Am 16. Januar vernichtet ein verheerender Angriff der Royal Air Force 90 Prozent der Altstadt von Magdeburg. Am 13. und 14. Februar sinken 90 Prozent der Innenstadt von Dresden in Schutt und Asche. Im März folgen die großflächigen Verwüstungen von Chemnitz und Dessau. Im April wird die Bausubstanz von Nordhausen, Plauen, Halberstadt und Zerbst in großen Teilen vernichtet. Auch Halle, Gera, Gotha, Jena, Schmalkalden und Weimar werden aus der Luft getroffen. Zehntausende Zivilisten fallen den Bombenangriffen zum Opfer.
Neues Hauptziel Mitteldeutschland
Dass sich die Angriffe auf Mitteldeutschland ab Januar 1945 massiv verstärken, hängt auch mit dem Kriegsverlauf zusammen: Nach dem Scheitern der letzten deutschen Großoffensive in den belgischen Ardennen, beginnen Briten und US-Amerikaner ab Februar mit ihrem Angriff auf die Rhein-Linie. Bis zum 10. März wird das gesamte westliche Rheinufer besetzt. Die alliierten Bomberverbände können nun auch verstärkt von Belgien und den Niederlanden starten. Von dort haben sie kürzere Anflugzeiten. Außerdem stehen den Westalliierten zum Schutz ihrer Bomber-Verbände neue Jagdflugzeug-Modelle mit größeren Reichweiten zur Verfügung. Auch das trägt maßgeblich dazu bei, dass die Angriffe auf Mitteldeutschland zunehmen. Zudem fallen Ziele in West- und Norddeutschland weg, weil diese bereits erobert oder zerstört sind. Viele kriegswichtige Betriebe sind ohnehin längst in das mitteldeutsche Industriegebiet verlagert worden.
Werkbank des Krieges
Ganz Mitteldeutschland ist Anfang 1945 noch immer eine verlässliche Werkbank des Krieges: Seine Schwelereien und Hydrierwerke produzieren aus Braunkohle Treibstoffe für Heer und Luftwaffe. Aus den Buna-Werken Schkopau kommt Kunstkautschuk für Reifen. Magdeburg und Plauen liefern Panzer, Dresden Sturmgeschütze. In Dessau werden Flugzeuge gebaut, in Leipzig Flugzeugmotoren. Carl Zeiss in Jena liefert Zieloptiken und Nachtsichtgeräte, das Waffenwerk in Suhl Karabiner und Maschinengewehre. Aus Thale im Harz kommen Stahlhelme. Der wichtige Industrieraum Leipzig-Halle-Bitterfeld wird seit 1944 von einem gewaltigen Gürtel aus 1.000 Flugabwehr-Geschützen gedeckt, der bei alliierten Bomberpiloten als "Flakhölle" gefürchtet ist.
Front rückt auf Ostsachsen
Die gescheiterte Ardennenoffensive hat auch Folgen für den Krieg im Osten. Die dafür aufgebotene Viertelmillion Soldaten, von denen etwa ein Drittel getötet, verwundet oder gefangen genommen wird, fehlen an der Ostfront. Dort tritt am 12. Januar die Rote Armee zur Weichsel-Oder-Offensive an. Bis zum 30. März werden fast ganz Ostpreußen, halb Schlesien, Hinterpommern und die Neumark überrannt. Mit dem Oberlausitzer Rothenburg an der Görlitzer Neiße wird erstmals eine Stadt in Mitteldeutschland Frontstadt. Zahlreiche Flüchtlinge strömen nach Sachsen.
US-Truppen erreichen Thüringen
Am 1. April erreicht der Landkrieg auch Thüringen. US-Truppen ziehen an diesem Tag in Creuzburg bei Eisenach ein. In Eisenach selbst wird noch bis zum 6. April gekämpft. Ungeachtet dessen besetzen US-Truppen am 3. April Suhl und am 4. April Gotha und Mühlhausen. Drei Tage später kommt es im 13 Kilometer westlich von Mühlhausen gelegenen Struth zu den schwersten Kämpfen auf thüringischem Boden im Zweiten Weltkrieg. Rund 250 deutsche und 50 US-Soldaten sowie zahlreiche Zivilisten werden getötet.
Vormarsch zur Elbe
Den Vormarsch der US-Armeen kann das nicht aufhalten. Am 11. April treten sie zum Großangriff in Richtung der mit den Sowjets vereinbarten Haltelinie an Elbe und Mulde an. Im Harz versucht die aus Resten der deutschen Ruhrarmee und Ersatztruppenteilen neu aufgestellte 11. Armee, den Vormarsch zu stoppen. Die US-Amerikaner wollen kurz vor Kriegsende möglichst wenige Soldaten verlieren. Beim geringsten Widerstand ziehen sie Panzer und Infanterie zurück und überlassen ihren weit überlegenen Artillerie- und Bomberkräften das Feld. Ansonsten wird die "Festung Harz" weitgehend umgangen und die dort stehenden deutschen Verbände eingeschlossen.
Todesmärsche von KZ-Häftlingen
Für die meisten Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen und seiner Harzer Außenlager, die bis dahin unter anderem V1- und V2-Raketen für die Wehrmacht bauen mussten, kommt die Befreiung der Lager durch die US-Amerikaner zu spät. Die SS treibt sie in Todesmärschen nach Osten. Tausende sterben dabei oder werden getötet. So ermorden beispielsweise Angehörige von NSDAP, SS, SA und Luftwaffe am 13. April 1945 in der Isenschnibber Feldscheune bei Gardelegen über 1.000 KZ-Häftlinge.
Die Zerstörung von Zerbst
Relativ schnell stoßen die US-Truppen nördlich und südlich des Harzes auf den Raum Magdeburg und den Großraum Halle-Leipzig vor. Wirklich schwere Kämpfe sind auf dem Weg dorthin eher selten. Dort, wo sich ernsthafter Widerstand formiert oder erwartet wird, setzen die US-Streitkräfte massiv Bomber und Artillerie ein. So wird das anhaltische Zerbst ab dem 16. April bei einem schweren Bomberangriff und anschließendem tagelangen Artillerie- und Tieffliegerbeschuss zu 80 Prozent zerstört.
Rettung von Halle und Kämpfe in Leipzig
Halle drohen die US-Amerikaner das gleiche Schicksal an. Einer Gruppe von Bürgern um den Seekriegshelden des Ersten Weltkrieges, Felix Graf von Luckner, gelingt es, den Kampfkommandanten der Wehrmacht mit seinen Truppen zum Abzug zu bewegen. Der Saale-Stadt bleibt ein Bombardement erspart. Am 17. April ziehen US-Truppen kampflos ein. Anders sieht es im benachbarten Leipzig aus. Dort werden bei Kämpfen bis zum 20. April 200 deutsche Soldaten, Volkssturmmänner und Hitlerjungen sowie 20 US-Soldaten getötet. Zur gleichen Zeit wird das 20 Kilometer entfernte Eilenburg an der Mulde, das kurz zuvor zur "Festung" erklärt worden war, durch dreitägigen US-Artilleriebeschuss zu zwei Dritteln zerstört.
Schlacht um Bautzen
Noch härter und verlustreicher sind die Kämpfe in Ostsachsen. Am 16. April starten die sowjetischen Armeen an Oder und Neiße den Großangriff auf Berlin. Im Süden soll die 2. Polnische Armee über Bautzen auf Dresden vorstoßen. Um Bautzen entwickelt sich in der Folge eine mehrtägige, äußerst blutige Schlacht. Ab 21. April kommt es dabei zur letzten größeren und erfolgreichen deutschen Panzeroffensive des Zweiten Weltkrieges. Mehrere polnische Verbände werden vollständig aufgerieben, tausende polnische und sowjetische Soldaten getötet. Auch auf deutscher Seite sind die Verluste hoch. Zudem kommt es im Zuge der Kampfhandlungen in Ostsachsen auf beiden Seiten zu schweren Kriegsverbrechen.
Kriegsverbrechen gegen Zivilbevölkerung
Auch die Zivilbevölkerung wird Opfer massiver Kriegsverbrechen. Eine erstmals 2002 im Leipziger Universitätsverlag erschienene wissenschaftliche Arbeit geht für den Zeitraum vom 16. April bis 9. Mai allein in Ostsachsen von über 700 willkürlich getöteten Zivilisten durch sowjetische und polnische Truppen aus. Hinzu kommen zahlreiche Vergewaltigungen. Nach Jahren des Krieges und der NS-Verbrechen in ihren Heimatländern entlädt sich der Hass sowjetischer und polnischer Soldaten auch an der deutschen Bevölkerung. Entsprechend fanatisch ist der Kampfgeist der Wehrmacht- und Waffen-SS-Verbände, die ebenfalls hunderte Kriegsgefangene töten. Kriegsmüde deutsche Soldaten und Zivilisten laufen zudem Gefahr, durch fliegende Standgerichte und Greifkommandos aufgehangen oder erschossen zu werden.
"Armee Wenck" zieht ab
Ungeachtet dessen ist die Bereitschaft, sich eher den US- als den sowjetischen Truppen gefangen zu geben, weitaus höher. Zahlreiche deutsche Truppen und Zivilisten versuchen in den letzten Kriegstagen auf der Flucht vor der Roten Armee noch über die Elbe zu gelangen. Auch die 12. Armee des Generals der Panzertruppe Walter Wenck strebt in den letzten Kriegstagen der Elbe zu. Der Großverband gilt als Hitlers letzte Hoffnung auf einen Entsatz von Berlin. Doch ihre Kräfte reichen nicht. Die Armee Wenck bleibt 30 Kilometer südwestlich von Berlin liegen. Am 1. Mai - sechs Tage zuvor hatten sich sowjetische und US-Truppen bei Torgau getroffen - zieht sich die 12. Armee nach Westen zur Elbe zurück.
Flucht über die Elbe
Über einen entlang der gesprengten Elbe-Brücke bei Tangermünde verlaufenden Behelfssteg erreichen am 6. Mai viele ihrer meist blutjungen Soldaten das westliche Ufer. Unter ihnen ist auch der 18-jährige Hans-Dietrich Genscher aus Reideburg bei Halle. In US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft erlebt er am 8. Mai 1945 die Gesamtkapitulation der Deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, das zugleich auch die Teilung Deutschlands einleitet. 45 Jahre später wird der ehemalige Soldat, der das Kriegsende in Mitteldeutschland erlebte, als Bundesaußenminister an der Wiedervereinigung seines Vaterlandes mitwirken.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 08. Mai 2023 | 14:00 Uhr