Himmlers Hexenkartothek Hexenwahn im 20. Jahrhundert
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28. April 2023, 16:22 Uhr
Nachdem die Rote Armee 1945 die kleine Stadt Schlesiersee in Niederschlesien einnahm, sollten die Soldaten das Stadtschloss durchsuchen. Doch was sie dort vorfanden, verwirrte sie: Tausende Karteikarten, in denen es immer wieder nur um eines ging: die Verfolgung, Verurteilung und Hinrichtung von Hexen im 16. und 17. Jahrhundert.
Im Februar 1945 nahm die Rote Armee die kleine Stadt Schlesiersee ein - das heutige Sława, südlich von Poznań. Erst wenige Wochen zuvor hatte das Reichssicherheitshauptamt Teile des eigenen Archives in das Schloss von Schlesiersee ausgelagert. Polnische und sowjetische Spezialisten wurden sofort mit der Sichtung des Archives beauftragt, erhoffte man sich doch, kriegswichtige Informationen zu gewinnen.
Ein seltsamer Fund
Doch was die Archivare vorfanden, verwirrte die Spezialisten. Tausende Karteikarten, in denen es immer wieder nur um eines ging: die Verfolgung, Verurteilung und Hinrichtung von Hexen im 16. und 17. Jahrhundert. Der seltsame Fund geriet ins Vergessen und wurde erst Jahrzehnte später wissenschaftlich aufgearbeitet. Heute weiß man, was dort im Februar 1945 in Schlesiersee entdeckt wurde: die sogenannte Hexenkartothek, entstanden im Auftrag des Reichsführers der SS - Heinrich Himmler.
Sonderauftrag H: Unter strenger Geheimhaltung
Himmlers Interesse an der Verfolgung von Hexen in der frühen Neuzeit ließ den Reichsführer der SS bereits 1935 ein wissenschaftliches Großprojekt starten - unter strengen Auflagen der Geheimhaltung. Das als Hexen-Sonderauftrag oder auch H-Sonderauftrag bezeichnete Unternehmen war direkt dem Sicherheitsdienst (SD) und ab 1939 dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt und bildete eine eigene Dienststelle.
Wann gilt man als Hexe: Spuren von Hexenprozessen
Ab 1935 durchkämmten 14 hauptamtliche Mitarbeiter über 260 Bibliotheken und Archive im gesamten Reich, später auch in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, auf der Suche nach Spuren von Hexenprozessen seit dem Mittelalter. Diese Recherchen erfolgten meist verdeckt. Die Mitarbeiter gaben sich nur selten als Angehörige des SD zu erkennen. Bis zur "kriegsbedingten" Einstellung der Arbeiten im Januar 1944 entstanden so 33.846 großformatige Karteibögen. Auf den DIN A4 großen Blättern wurden - soweit bekannt - Name, Adresse, Familienverhältnisse, Verhaftungsdaten, Prozessverlauf, Geständnis, Urteil und Hinrichtung der als Hexe oder Hexer Verurteilten erfasst.
Neben diesen sogenannten Hexenblättern gehörten zur Kartothek auch Abschriften, Aktenkopien, regional gegliederte Bibliographien und geplante eigene Publikationen und Filmprojekte. Außerdem eine Urkunden-, Orts-, Personen-, Literatur- und Archivdatei.
Hexen als Hüterinnen altgermanischen Glaubens?
Himmlers Beschäftigung mit der Hexenverfolgung schien zuerst seinem privaten Interesse zu entspringen. In der Familie Himmler erzählte man sich, in den Reihen der eigenen Ahnen auch eine verfolgte Hexe zu haben. Doch Heinrich Himmler verfolgte mit diesen Forschungen einen klaren ideologischen Auftrag. Er sah in der Hexenverfolgung ein Verbrechen der katholischen Kirche und den Versuch, altgermanisches Erbe zu vernichten.
Himmler gab dem H-Sonderauftrag darum auch einen klaren Auftrag: Das Wirken von Hexen sei als letztes Wirken eines altgermanischen Glaubens und Ausüben altgermanischer Rituale aufzufinden. Die Dokumente der Hexenprozesse sollten propagandistisch genutzt werden.
Blutzoll der arischen Rasse
In den letzten Jahren des H-Sonderauftrages sollte die Forschergruppe zudem Beweise dafür erbringen, dass hinter der Verfolgung deutscher Frauen, jüdische Ankläger und Verschwörer stünden. Er wollte eine Traditionslinie aufzeichnen bis in die Tage des Nationalsozialismus. Für Himmler stand fest: Der Tod germanischer Frauen in den Verfolgungsprozessen des Hexenwahns war ein früher, erster Blutzoll der arischen Rasse. Zum Auftrag des Forscherteams gehörte es darum auch, entsprechendes propagandistisches Material in Form von historischen Romanen, Erzählungen und Filmprojekten vorzubereiten.
Wissenschaftlicher Wert umstritten
Der wissenschaftliche Wert der Sammlung ist für die heutige Forschung zur Hexenverfolgung widersprüchlich. Einerseits ist es eine erstaunliche Materialsammlung, die auch Dokumente aus Archiven enthält, die heute nicht mehr zugänglich sind oder als zerstört gelten. Andererseits sind die wissenschaftlichen Methoden der SS-Forscher zu ungenau und ideologisch geprägt.
Die Hexenkartothek ist heute Bestandteil der Sammlungen des Woiwodschaftsarchiv Poznan. Eine Kopie befindet sich im Bestand des Bundesarchivs in Berlin.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | Verehrt, gefürchtet, verfolgt - Hexenwahn und Hexenkult im 20. Jahrhundert | 26. April 2020 | 22 Uhr
Dieser Artikel erschien erstmals 2020.