"Polenaktion" Erste organisierte Massenausweisung der Nationalsozialisten
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"Polenaktion": Wie das Dritte Reich polnische Juden abschob
27. Oktober 2022, 05:00 Uhr
Zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 wurden etwa 17.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen. Die von den Nationalsozialisten als "Polenaktion" bezeichnete Abschiebung war ein erster Höhepunkt der Judenverfolgung im Dritten Reich. Sie gilt heute als Generalprobe für alle späteren Deportationen und Auftakt zur Vernichtung.
Ende der 1930er-Jahre lebten 50.000 bis 60.000 polnische Juden in Deutschland, die meisten von ihnen in Großstädten wie Berlin, Frankfurt, Leipzig, Hamburg und Köln. Viele waren während des Ersten Weltkrieges als Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder Arbeitsmigranten hierher gelangt. Andere kamen später als Geschäftsleute und Händler. Einige blieben auf dem Weg in die USA in Deutschland hängen. Das nationalsozialistische Regime bezeichnete sie als "Ostjuden". Sie waren die ersten, derer man sich im Dritten Reich entledigen wollte.
Polen - damals gerade auf dem Weg zu einem autoritären, stark national ausgerichteten Staat - tendierte wie einige andere europäische Länder ebenfalls zu Antisemitismus und Judenhass. Auch dort wurden jüdische Bürger immer mehr diskriminiert und rechtlich eingeschränkt.
Polens Ängste nach dem "Anschluss"
Der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich Mitte März 1938 bedeutete auch, dass die antijüdische Gesetzgebung dort in Kraft trat. Polen, wie auch andere europäische Staaten, befürchtete einen massenhaften Flüchtlingsstrom aus dem Dritten Reich, vor allem die Rückkehr verarmter jüdischer Landsleute. Die polnische Regierung versuchte, sich davor zu schützen und erließ noch im selben Monat ein Gesetz über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft.
Himmler veranlasst "Polenaktion"
Nach dem 29. Oktober 1938 wäre damit für die Betroffenen eine Einreise nach Polen unmöglich gewesen. In Nazi-Deutschland war man deswegen alarmiert. Denn Menschen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen, würde man kaum abschieben können. Der Polizeichef und SS-Reichsführer Heinrich Himmler veranlasste daher am 26. Oktober 1938 die Aushändigung eines Ausweisungsbefehls an die Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Die damit einhergehenden Verhaftungen folgten in den Tagen darauf.
"Krieg" gegen Juden
Einigen polnischen Bürgern gelang es jedoch, sich zu verstecken und sich der Zwangsausweisung zu entziehen. Einzelne fanden auf dem Gelände der polnischen Vertretungen in Deutschland Zuflucht. Außergewöhnlich erscheint die Rettung von etwa 1.300 polnischen Juden in Leipzig, dank des Engagements und der Courage des polnischen Generalkonsuls Feliks Chiczewski.
In Leipzig lebten zu jener Zeit etwa 4.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit. Jedes dritte Mitglied der Jüdischen Gemeinde in der Stadt war demnach polnischer Bürger. Ein Teil lebte schon seit dem Kaiserreich in Leipzig, viele waren nach dem Ersten Weltkrieg gekommen, ihre Kinder wurden hier geboren.
Schon vor der Verhaftungswelle Ende Oktober hatte der polnische Generalkonsul Chiczewski an den polnischen Botschafter in Berlin über die Zuspitzung der Judenverfolgung berichtet. Er nannte es einen "Krieg, den die nationalsozialistische Partei den Juden erklärt hat", der mit der "völligen Vernichtung der Juden enden" müsse. Aber Polen könne zum Rettungsanker für die Juden werden. Kurz darauf war es Feliks Chiczewski selbst, der einen Rettungsanker auswarf.
Zuflucht für 1.300 Juden
Er warnte die in Leipzig lebenden polnischen Juden und öffnete ihnen die Tore zum Konsulat. Ein Flüchtlingsstrom in die Wächterstraße 32 setzte ein. Für die Leipziger Taxifahrer war es das Geschäft des Jahres, denn viele nahmen ein Taxi, um nicht auf der Straße oder in der Bahn verhaftet zu werden. Bis zum Mittag trafen etwa 1.000 Juden im Konsulat ein, darunter auch einige aus anderen Städten. Insgesamt sollen es etwa 1.300 gewesen sein. Chiczewski gewährte ihnen Zuflucht in der Villa und im Garten.
Die Juden, die sich ins polnische Konsulat in Leipzig retten konnten, kehrten am 29. Oktober unbehelligt nach Hause zurück. Sie bekamen die Chance, noch vor den November-Pogromen ins Ausland zu fliehen.
Die Hilfe des Generalkonsuls Chiczewski während der "Polenaktion" war einzigartig in Deutschland. Er engagierte sich für seine Landsleuten, obwohl dies von seinen Vorgesetzten missbilligt wurde. Heute erinnert eine Gedenktafel an der Villa in der Wächterstraße 32 in Leipzig daran.
Auftakt zur systematischen Vernichtung
Die Zwangsausweisung der 17.000 polnischen Juden am 27. und 28. Oktober 1938 aus dem Deutschen Reich gilt als Auftakt der systematischen Vernichtung von Juden durch die Nationalsozialisten. Nur wenige Tage später, am 7. November 1938, erschoss der 17-jährige Herschel Feibel Grynszpan aus Verzweiflung über die Ausweisung seiner Eltern im Zuge der "Polenaktion" einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris. Dieses Attentat nahmen die Nationalsozialisten zum Vorwand für die November-Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland.
Was aus den deportierten Juden wurde Wer sich nicht retten konnte, wurde am Abend des 28. Oktober 1938 in bereitgestellten Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht. Was aus den ausgewiesenen polnischen Juden geworden ist, ist bis heute weitgehend ungeklärt. Einige Tausend blieben bis zum Kriegsausbruch in der Grenzstadt Bentschen (heute Zbaszyn), lebten in einem provisorischen Lager unter teils katastrophalen Bedingungen. Jüdische Hilfsorganisationen und bemerkenswerterweise auch die Einwohner von Bentschen unterstützten die Deportierten, so gut sie konnten. Im Laufe der Zeit konnten einige der Ausgewiesenen weiterziehen, kamen bei Verwandten in Polen oder im Ausland unter. Die meisten aber wurden später in die Vernichtungslager deportiert und teilten das Schicksal der Millionen jüdischen Bürger in Polen, die während der deutschen Besatzung ermordet wurden.
(zuerst veröffentlicht am 26.10.2018)
Über dieses Thema berichtete MDR ZEITREISE im TV: 06.11.2018 | 21:15 Uhr