Exportschlager um 1900 Mode statt Bergbau: Stickerei aus dem Erzgebirge erobert Amerika
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23. Juni 2022, 15:31 Uhr
Eine besondere Immobilie im sächsischen Eibenstock zeugt vom einstigen Mode-Boom im Erzgebirge: das ehemalige US-Konsulat. Was nur noch wenige wissen: Um 1900 belieferten fast 60 Eibenstocker Stickereien weite Teile des Weltmarktes. Viele der Exporte gingen nach Übersee. Die Geschichte dieses Exportschlagers erzählt das Stickereimuseum in Eibenstock. Das frühere Generalkonsulat ist nun versteigert worden: An die Stadt Eibenstock, die einziger Bieter war. Sie will das Haus neu beleben.
Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten: Am 23. Juni ist das denkmalgeschützte ehemalige Konsulat der USA in Eibenstock versteigert worden. Mit dem repräsentativen Gebäude kam auch ein Stück sächsischer Geschichte unter den Hammer: die spannende Story der Eibenstocker Stickereien, die einst zahlreiche Bergmannsfamilien vor dem Hungertod bewahrt hatten – ein Exportschlager, der die kleine Stadt im Erzgebirge sogar in der weltbeherrschenden Industriemacht Amerika um die Jahrhundertwende bekannt machte.
Wer heute in die 7.000-Einwohner-Stadt Eibenstock reist, kommt an dem stadtbildprägenden, etwa 1883 errichteten und unter Denkmalschutz stehenden Gebäude in der Schulstraße kaum vorbei. Die sanierungsbedürftige Fassade des ehemaligen amerikanischen Konsulates spiegelt nur noch wenig vom alten Glanz wieder. Von diesem erzählt unweit des Konsulates die Dauerausstellung im Stickereimuseum Eibenstock.
Kleine Nadeln für geschickte Hände
Im Stickereimuseum schaltet Museumsmitarbeiterin Andrea Barth regelmäßig historische Maschinen für Gäste an. Sie zeigt ihnen auch die kleine Häkelnadel, der das sächsische Städtchen seinen Wohlstand zu verdanken hatte. "Mit dieser Häkelnadel sind feine Stickereiarbeiten auf eingespannten Stoffen möglich. Diese Technik nennt man Tambourieren", erklärt Andrea Barth an einem der ausgestellten Handarbeitstische mit einem Stoffrahmen. Anders als beim Klöppeln, mit dem viele der berühmten "Spitzen" aus der sächsischen Stadt Plauen hergestellt wurden, konnten beim Tambourieren auch Perlen, Pailetten und Flitterfäden verarbeitet werden – ein Vorteil, der sich später in der Kleidermode auszahlen sollte.
Sticken gegen den Hungertod
Die kunstvolle Stickerei lernten die Eibenstocker Frauen von Clara Angermann. Die verwaiste Försterstochter kam 1775 aus einem polnischen Kloster zu ihrem Onkel, einem Förster, nach Sachsen. "Zu dieser Zeit herrschte in Eibenstock eine Hungersnot aufgrund von hoher Arbeitslosigkeit und dem Niedergang des Bergbaus. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist damals verstorben", erklärt Andrea Barth.
Als die Arbeit im Bergbau 1760 drastisch zurückging, kamen Not und Armut in Eibenstock und Umgebung auf. Viele Menschen mussten die Not mit ihrem Leben bezahlen. Im Jahre 1772 kostete ein Brot vier Groschen und fünf Pfennige, aber der Tageslohn betrug damals nur zwei Groschen und drei Pfennige. Demzufolge konnten sich die Menschen nicht täglich ein Brot kaufen.
Manche Bergleute begannen aus der Not heraus mit dem Schnitzen – der Beginn der weltberühmten Holzkunst. Viele Menschen in Eibenstock fanden einen anderen Ausweg. Aus Mitleid und Hilfsbereitschaft gab Clara Angermann den Notleidenden Unterricht in der Stickereitechnik, die sie selbst im Kloster erlernt hatte. Damit schuf sie für die notleidenden Eibenstocker einen neuen Wirtschaftszweig, der für viele ansässige Familien zum Broterwerb wurde. "Clara Angermann wird bis heute 'Wohltäterin von Eibenstock' genannt", berichtet Andrea Barth und zeigt auf eine geschnitzte Holzfigur Angermanns, die im Museum ausgestellt ist.
Arbeitslose Bergleute werden zu fliegenden Händlern
Schon bald sprossen Stickereistuben aus dem Boden. Die arbeitslos gewordenen Männer aus dem Bergbau trugen die von ihren Frauen und wohl auch Kindern angefertigten Waren als fliegende Händler zu Märkten und Modehäusern. Den Weltruhm ihrer Handarbeitstechnik sollte die zehnfache Mutter Clara Angermann (1753-1803) nicht mehr erleben. Doch im heutigen Eibenstock bleibt sie unvergessen. Die Stadt plant einen jährlichen Ehrentag für Clara Angermann. Und ihr Name fand Eingang in die Datenbank prominenter Sachsen des Institutes für Sächsische Geschichte und Volkskunde.
Durchbruch auf der Weltausstellung in Chicago
In Zeiten ohne Computer, Fernsehen und Social Media waren Weltausstellungen der größte Marktplatz für Informationen, Innovationen und manchmal Sensationen. Eine dieser Sensationen war der Eiffelturm, der zum Wahrzeichen der Weltausstellung in Paris 1889 wurde. Der Weltruhm für die Eibenstocker Stickereien kam vier Jahre später mit der Weltausstellung in Chicago, berichtet Stadtsprecherin Susanne Schlesinger. Diese gigantische Industrie- und Handwerksschau auf amerikanischem Boden fand 1893 statt, mit 70.000 Ausstellern aus 46 Nationen. Händler aus Eibenstock durften dort auf Einladung ihre Stickereiwaren ausstellen. In deren Heimatstadt hatte etwa zwei Jahre vor der Eröffnung der Weltausstellung das amerikanische Generalkonsulat geöffnet. Vermutlich durch dessen Vermittlung konnten die Eibenstocker sich mit ihren Bunt- und Perlstickereien in Chicago präsentieren.
Das Stickereimuseum zeigt das historische Fotos eines der Messestände. Daneben hängt eine amerikanische Urkunde. Sie dokumentiert die Verleihung eines amerikanischen Ausstellerpreises für einen Stickereihändler aus "Eibenstock, Germany" auf der Weltausstellung.
Viele US-Konsulate in Mitteldeutschland
Zur Zeit der Weltausstellung in Chicago unterhielten die USA in Sachsen und Mitteldeutschland bereits ein ganzes Netz an Konsulaten. Beispielsweise seit 1826 in der Messestadt Leipzig, ab 1837 auch in Dresden oder seit 1867 in Chemnitz. Im Jahr 2011 würdigte die amerikanische Botschaft in Deutschland mit einer Broschüre die "185 Jahre US-Konsularische Vertretungen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen". Darin steht: "Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherbergte die Region vierzehn amerikanische Konsularvertretungen." Neben den drei sächsischen Großstädten gab es Konsulate in Annaberg, Erfurt, Gera, Glauchau, Magdeburg, Markneukirchen, Plauen, Sonneberg, Weimar und Zittau.
US-Generalkonsul würdigt Eibenstock
Im April 2022 besuchte der Leipziger US-Generalkonsul Kenichiro Toko die Stadt Eibenstock und ließ sich von Bürgermeister Uwe Staab das historische Konsulat zeigen. Dort beschreibt eine Tafel die Geschichte des Gebäudes und zeigt eine historische Ansicht. Im Gespräch mit MDR GESCHICHTE würdigte Toko die "langjährigen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dieser Region", für die auch das frühere Konsulat in Eibenstock stehe.
Das ehemalige US-Konsulat in Eibenstock steht für die langjährigen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dieser Region. Heute fördern wir den Austausch in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Bildung und Kultur von unserem Standort in Leipzig aus weiter. Wir freuen uns, dass wir in diesem Jahr 196 Jahre konsularische Beziehungen zwischen den USA und Mitteldeutschland und 30 Jahre seit unserer Wiedereröffnung feiern.
Stickereiboom sorgt für Bahnanschluss
Der Erfolg für die Stickereien aus Eibenstock in Chicago kurbelte die Exporte an. 1905 bekam der kleine Ort im Erzgebirge einen direkten Eisenbahnanschluss, dessen Einweihung feierlich begangen wurde. Bis dahin mussten Waren beschwerlich mit Pferdefuhrwerken entlang einer steilen Strecke von und zu dem Ort befördert werden. Denn der 1875 gebaute Bahnhof für die Stadt Eibenstock entlang der Strecke von Chemnitz über Aue nach Adorf befand sich mehrere Kilometer weit von der Stadt entfernt im Tal der Zwickauer Mulde.
Charleston-Mode befeuert Stickerei-Boom
Auch die in den Zwanziger Jahren aufkommende Charleston-Musik und -Mode befeuerten den Verkauf der Eibenstocker Stickereien. Beides schwappte über den Großen Teich aus Amerika nach Deutschland und sorgte für einen Aufschwung des Nacht- und Partylebens mit freizügiger Kleidung vor allem bei weiblichen Gästen. Viele der glitzernden Abendkleider waren mit der Bunt- und Perlstickerei aus Eibenstock verziert.
In der Erzgebirgsstadt hatten inzwischen Stickereimaschinen Einzug gehalten, die teilweise per Lochkarte gesteuert, die vielfältigen Muster auf den Stoff aufbrachten. Einige davon sind noch im Stickereimuseum zu besichtigen.
Um 1900 zählte Eibenstock 57 Stickereifabriken
Aus dem anfänglich bescheidenen Gewerbe entwickelte sich so im Laufe der Zeit eine blühende Stickindustrie, die Eibenstock Weltruhm und Wohlstand brachte. Von 1900 bis 1914 wuchs die Zahl der Stickereifabriken im Ort von 19 auf 57 an. Eine davon befand sich im Hinterhof des US-Konsulates. Sie wurde laut Versteigerungskatalog inzwischen abgerissen.
Laut der Informationstafel am Konsulat führte der Erste Weltkrieg zu einem "ersten Zusammenbruch der Stickerei-Industrie sowie auch der gesamten sächsischen Textilindustrie." Obwohl sich einige Fabriken erholten, sollte die alte Blüte demnach "nicht mehr zurückkehren". Das Eibenstocker Konsulat war bereits 1908 aufgrund einer Neustrukturierung dem Konsulat in Plauen zugeordnet worden.
Einen erneuten Aufschwung gab es nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Anzahl der Stickereifabriken in Eibenstock wuchs laut Andrea Barth während der DDR-Zeit auf bis zu 62 Fabriken an. "Heute gibt es noch zwei Stickereifabriken im Ort", berichtet die Expertin.
Aus Stickereimuseum wird ein "Schatzhaus"
So gesehen, ist es konsequent, dass das Stickereimuseum seinen Namen ändert. "Das Museum heißt ab September 2022 'Schatzhaus Erzgebirge'. Wir wollen das Museum breiter aufstellen", erklärt Stadtsprecherin Susanne Schlesinger der Redaktion von MDR GESCHICHTE. Das Thema Stickerei werde weiter einen zentralen Platz in der Ausstellung einnehmen, doch werden Exponate aus dem Kunsthandwerk und anderer Kunst stärker einbezogen.
Wird das historische US-Konsulat saniert?
Und was wird aus dem Konsulat in Eibenstock? Bei der Auktion am 23. Juni in Berlin gab es dafür nur einen Bieter. Das denkmalgeschützte Gebäude kam zum Mindestpreis von 95.000 Euro unter den Hammer. Der Käufer wurde vom Auktionshaus Deutsche Grundstücksauktionen AG nicht öffentlich gemacht. Doch Eibenstocks Bürgermeister Uwe Staab verriet dem MDR, dass die Stadt selbst das Konsulat sowie ein weiteres historisches Gebäude am Ort gekauft hat. "Nun liegt es in unserer Hand, aus diesen schönen Häusern etwas zu machen", sagte Staab.
Das wird nicht einfach. Wie Bürgermeister Staab MDR GESCHICHTE im Vorfeld der Auktion schrieb, ist das leerstehende Gebäude "stark verfallen beziehungsweise sehr sanierungsbedürftig. Alle bisherigen Käufer haben nichts am Gebäude gemacht, außer es wieder weiter zu verkaufen." Nach und nach sind laut Staab denkmalgeschützte Einbauten wie Türen, Öfen, Parkett "ausgebaut und weggebracht" worden.
In jedem Fall hoff der Bürgermeister, dass das historische Konsulat "so schnell wie möglich saniert und einer Nutzung zugeführt" wird. Denkbar seien dabei Wohnungen und Büros oder eine Nutzung als Hotel. So würde ein Stück erzgebirgischer und amerikanischer Geschichte vor dem Verfall gerettet.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Unterwegs in Sachsen | 07. März 2020 | 18:15 Uhr