Nylon - eine Kunstfaser erobert die Welt
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20. September 2018, 12:56 Uhr
Es bringt Tausende ins Schwitzen, rettet Soldaten das Leben und umschmeichelt Frauenbeine: Nylon. Als Erste entdeckten die US-Amerikaner die Kunstfaser, die in der DDR später als Dederon und in der BRD als Perlon bekannt war, und ließen sie sich vor 80 Jahren patentieren.
"Wenn ich tanzen war, habe ich das danach hingestellt, das stand durch den Schweiß", erinnert sich ein ehemaliger DDR-Bürger an die Eigenheiten seines Dederon-Hemds. Die Kleidung aus der Kunstfaser war dafür berüchtigt, dass sie ihren Träger schnell ins Schwitzen – und zum Müffeln brachte. Dennoch war sie nicht aus der DDR-Mode wegzudenken. Auch die Textilindustrie in Westdeutschland setzt in den 1950er- und 1960er-Jahren im großen Stil auf das Chemieprodukt, dort allerdings unter dem Namen Perlon.
Die USA haben die Nase vorn
Möglich wurde all das erst durch die Entdeckung der Kunstfaser am 29. Januar 1938 durch den Chemiker Paul Schlack. Der Leiter der Forschungsabteilung bei Aceta in Berlin-Lichtenhagen, einer Firma des Chemiekonzerns IG Farben, nennt sie zunächst Perluran, später Perlon. Doch er war nicht der erste, der die künstliche Faser entdeckt.
Bereits drei Jahre zuvor, am 28. Februar 1935, stellt Wallace Carothers im Auftrag von Amerikas größtem Chemieunternehmen DuPont, die erste vollständig synthetisch hergestellte Faser für die Textilindustrie her: Nylon. Am 20. September 1938 erteilte das US-Patentamt das Patent für die Kunstfaser und deren Herstellungsprozess.
Das lässt Schlack, der bisher erfolglos an einem spinnbaren Polyamid geforscht hatte, aufhorchen. Der findige Chemiker weiß, dass er das Patent umgehen muss. Und so fängt er an, intensiv die Patentschrift zu studieren. Mit den Substanzen, die Carothers eigentlich verworfen hatte, experimentiert er so lange, bis das Kunststück gelingt.
Nylon gleich Perlon?
In ihren Eigenschaften sind sich Nylon und Perlon sehr ähnlich: sie lassen sich zu Fäden verspinnen, sind dehnbar, temperaturbeständig, leicht zu waschen und fast unverwüstlich. Bei ihrer Herstellung werden jedoch unterschiedliche Ausgangsprodukte verwendet. Perlon besitzt zudem einen niedrigeren Schmelzpunkt und lässt sich leichter färben.
Die Geburt der Feinstrumpfhose
Bereits kurze Zeit nach Schlacks Entdeckung wird im sächsischen Oberlungwitz der erste Versuchsstrumpf aus Perlon produziert. Auch die US-Amerikaner setzen auf die feinen Strümpfe: 1939 stellen sie auf der Weltausstellung in New York den ersten Prototypen vor.
DuPont bietet der IG Farben eine Lizenz für Nylon an, doch der Chemiekonzern lehnt, dank Schlacks Erfindung, mit einem Lächeln ab. Also teilen sich die Unternehmen die Absatzmärkte unter sich auf. Ein deutsch-amerikanisches Kunstfaser-Kartell entsteht.
Am 15. Mai 1940 stürmen Tausende Frauen die Kaufhäuser US-amerikanischer Städte. Sie wollen die neueste Errungenschaft der Textilindustrie ergattern: Nylonstrümpfe. Allein an diesem ersten Tag werden laut dem Hersteller DuPont fünf Millionen Paar verkauft. Er geht als "N-Day" in die amerikanische Geschichte ein. Die deutsche Damenwelt muss vorerst noch auf Perlonstrümpfe verzichten. Denn der Krieg bricht an.
Fallschirme statt Strümpfe
Die zivile Nutzung des neuen Stoffes rückt mit Kriegsbeginn in den Hintergrund. Aufgrund seiner Eigenschaften wird er als "kriegswichtig" eingestuft: Fallschirme, Schiffstaue, Schläuche für Flugzeugreifen, Seile, Zelte, Borsten zur Reinigung von Waffen und Fäden zur Wundversorgung werden daraus hergestellt. Paul Schlack erhält für seine Entdeckung das Kriegsverdienstkreuz erster Klasse.
Symbol des Wirtschaftswunders
Nach dem Krieg liegt die Kunstfaserindustrie in Deutschland weitestgehend brach. Die meisten Fabriken befinden sich in der sowjetischen Zone, viele Maschinen werden als Reparationsleistung in die Sowjetunion gebracht.
Vier Jahre nach Kriegsende beginnt im ehemaligen IG-Farben-Werk Bobingen bei Augsburg die kommerzielle Produktion von Perlon. Nach einigen Monaten stellt die Fabrik unter der Leitung Paul Schlacks bereits 15 Tonnen Perlonfasern her. Der Stoff symbolisiert das Wirtschaftswunder: 1951 gehen dreißig Millionen Strümpfe, das Paar für zehn Mark, über den Ladentisch. Vier Jahre später sind es schon 100 Millionen, nun kosten sie nur noch drei Mark.
Spielball zwischen Ost und West
Die bundesdeutschen Hersteller sehen in der Kunstfaserproduktion in der DDR eine lästige Konkurrenz. 1952 schützen sie Perlon als Marke und verklagen die DDR. Die Genossen entwickeln daraufhin ihre eigene Marke. Als Huldigung an den Arbeiter- und Bauernstaat nennen sie sie Dederon (DDR+on).
Der Markenwechsel ist in der DDR von einer groß angelegten Werbekampagne begleitet. Die Staatsführung feiert den "Faden vollendeter Verlässlichkeit" als Beleg für die Überlegenheit des Sozialismus – getreu der ausgegebenen Losung "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit".
Dederon überall
Auch in der DDR hält der synthetische Stoff ab den 1960er-Jahren Einzug in den Alltag der Bürger. "Es gab ja eigentlich kaum ein Kleidungsstück, das nicht aus Dederon gefertigt wurde, sei Badebekleidung, sei es Untertrikotagen, Miederwaren. Auch ein Hauch von Erotik war dabei bei den sogenannten Flatterhemdchen aus Dederon", meint die Historikerin Henrike Girmond. Die Chemiefaser verkörpert den ungebremsten Fortschrittsglauben in der DDR. Für den Einsatz in der Herzchirurgie entwickeln Ingenieure sogar Blutgefäße aus Dederon.
In den Leuna-Werken stellen Chemiker aus sowjetischem Erdöl Caprolactam, den Grundstoff für Perlon her. Von dort kommt er in die großen Chemiekombinate: Nach Premnitz, Guben und nach Schwarza in Thüringen, wo in raffinierten Verfahren die Wunderfaser Perlon entsteht.
Der Hype ebbt ab
Ab Ende der 1970er-Jahre haben Perlon und Dederon ihre besten Zeiten hinter sich. Neue Kunstfasern, die die Haut besser atmen lassen, erobern den Markt. Doch noch immer produziert die Chemieindustrie jährlich weltweit etwa vier Millionen Tonnen der Kunstfaser. Eingesetzt wird sie vor allem in Teppichböden. Obwohl Perlon erst nach Nylon entwickelt wurde, macht die Faser heute ca. zwei Drittel der weltweiten Produktion aus.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: Der Osten - Entdecke wo du lebst | 31.01.2017 | 20:45 Uhr