Enteignungswelle 1972 Als die DDR die letzten Familienbetriebe verstaatlichte
Hauptinhalt
12. Juli 2022, 12:56 Uhr
Am 13. Juli 1972 meldet DDR-Staatschef Erich Honecker seinem politischen "Ziehvater" und Kremlchef Leonid Breschnew den Abschluss der Verstaatlichungsakampagne. Bis dahin gibt es in der DDR noch über 11.000 private Betriebe. Oft stellen sie Nischenprodukte her, die aus dem Alltag aber nicht wegzudenken sind. Wie die Sika Werke in Leipzig, die zu den 1972 zu den zwangsweise verstaatlichten Firmen gehört. Nach der Wiedervereinigung fangen die Unternehmer fast bei Null an.
Die Sika Werke in Leipzig, ein mittelständisches Unternehmen in privater Hand, produzieren Plastikfolien aller Art. Es sind Nischenprodukte, doch unerlässlich für den Alltag - aus solchen Folien wird zum Beispiel Regenkopfschutz für Damen hergestellt. Bis 1972 läuft alles hervorragend. In jenem Schicksalsjahr aber wird Sika-Eigentümer Eberhard Kaps gezwungen, seine Firma an den Staat abzugeben.
Da ging es hart zur Sache. Es hat den Vater sehr mitgenommen, aber gegen das System der Diktatur hatten sie keine Chance.
1972 ist das Jahr nach dem Machtantritt Honeckers. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in der DDR noch über 11.000 private und halbstaatliche Betriebe mit mehr als 50.000 Beschäftigten. Zusammen erwirtschaften sie immerhin 15 Prozent der Industrieproduktion und erleichtern vor allem mit "1.000 kleinen Dingen" des Alltags das Leben im realen Sozialismus - wie die Regenhauben von Sika.
Honecker will das Ende des Privateigentums
Walter Ulbricht hatte die privaten und halbstaatlichen Betriebe durchaus geschätzt. Sie sorgten in der sozialistischen Planwirtschaft für ein wenig Flexibilität, die er erhalten wollte. Doch nun soll plötzlich Schluss sein mit Privateigentum. Der neue erste Mann im Staat, Honecker, erzwingt die komplette Verstaatlichung. Unter dem ideologischen Vorwand der Vervollkommnung des Sozialismus betreibt er wirtschaftlichen Kahlschlag. Denn "dadurch verschwanden zum Teil Konsumgüter vom Markt, und das widersprach eigentlich den Zielen der Honeckerschen Wirtschaftspolitik", berichtet Wirtschaftshistoriker Prof. André Steiner. Honecker wollte nämlich eigentlich den Konsum ankurbeln, um die Zufriedenheit der Bevölkerung zu steigern.
Da spielte die Ideologie eine Rolle, darüber hinaus wurde aber auch Sozialneid instrumentalisiert, weil die bis dahin noch verbliebenen Privatunternehmer und halbstaatlichen Unternehmer deutlich höhere Einkommen erzielten als Arbeiter oder Ingenieure.
Erste Enteignungen noch in der SBZ
In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gibt es schon 1946 die erste gesetzliche Grundlage zur Verstaatlichung von Privateigentum. Damals werden die Großbetriebe enteignet. Die kleineren Privatbetriebe dürfen vorerst bleiben - werden aber behindert und bei der Ressourcenzuteilung benachteiligt.
Außerdem kauft sich der SED-Staat in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Beteiligungen in gut laufende Privatunternehmen ein. Schleichend, aber stetig, wird der Zugriff auf Plan-, Preis- und Produktvorgaben der Privaten ausgedehnt. Offiziell wird es als Solidaritätsakt verkauft, der den Unternehmen hilft, das eigene Angebot zu erweitern und zu verbessern.
Bessere Bedingungen mit staatlichem Geld
Diesen Weg beschreitet auch die Leipziger Firma Sika. 1959 darf sich der Staat bei den Kaps einkaufen. Zu dem Zeitpunkt ist das gut für die Firma. Inzwischen hat sie über hundert Mitarbeiter, mit dem Staatsgeld können die Löhne erhöht neue Investitionen gemacht werden.
Doch bereits mit dem Mauerbau 1961 und der Zwangsenteignung der Grundstücksbesitzer dort ahnt Vater Kaps, was auch auf sie zukommen kann. Als er versucht, sich zu wehren, bekommt er die Härte der Staatsmacht zu spüren. Mit Steuer- und Preisprüfungen versucht man, belastendes Material gegen den aufmüpfigen Privatunternehmer zu finden. Wegen eines angeblichen Preisverstoßes wird er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Keine Chance für die Eigentümer
Dann kommt das Jahr 1972. Die beschlossene Verstaatlichung der Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigen beginnt im Bezirk Leipzig. So stehen die Genossen eines Morgens Anfang April auch bei den Kaps vor der Tür, berichtet Sohn Rainer Kaps im MDR-Fernsehen.
Die greifen sich da jeden einzelnen und machen ihn fertig. Keine Chance hatten die Leute. Also mein Vater war bestimmt ein harter Typ, der hat gekämpft, aber gegen die Leute, das wusste er, hatte er keine Chance.
Wie tausende Privatbetriebe erhalten auch sie an jenem Tag ein vorgedrucktes Schriftstück zur Unterschrift: „Wir erklären uns bereit, unseren privaten Anteil am Betrieb an den Staat zu verkaufen. Wir halten diesen Schritt [...] für richtig.“ Für die Kaps ist das ein Hohn. Auch die Entschädigungen für die gut laufenden Familienbetriebe sind nicht angemessen. Sie werden heruntergerechnet und die Gelder auf Sperrkonten geparkt. Der Unternehmer bekommt nur eine bestimmte jährliche Summe zugeteilt.
Vater und ich wurden dann Leiter in zweiter Ebene, irgendwie haben wir unser Ding aber weiter gemacht und uns eingebracht. Im Innersten war es ja noch immer unsere Firma, deshalb haben wir sie nicht blockiert.
17 Jahre später fällt die Mauer und plötzlich gibt es die Chance, den VEB zurückzukaufen. Doch wer im Osten hat schon das Geld dafür? Vermögen konnte nicht aufgebaut werden. Nun sind die Betriebe kaputt, es müssen Altschulden und Löhne gezahlt, Immobilien erworben werden. Vater und Sohn Kaps zögern zunächst, sich den Stürmen der Marktwirtschaft zu stellen. Aber dann werden aus einem kleinen Teil des abgewirtschafteten VEB Polyfol wieder die Sika Werke mit einem Kaps an der Spitze.
Dieser Beitrag wurde erstmals 2017 veröffentlicht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 09. Mai 2021 | 22:30 Uhr