Wartende DDR-Bürger vor der deutschen Botschaft in Prag
Bildrechte: IMAGO / Sven Simon

Flucht aus der DDR Aktion Zündspule – als die Stasi Autos "klaute"

04. Februar 2025, 05:00 Uhr

Bei der Flucht aus der DDR über die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen lassen tausende Menschen ihre Autos dort zurück. Die Stasi beginnt ab 1988/89, die Pkw sicherzustellen und in die DDR zu überführen. Auch, um sie dort zu verkaufen. Zahnarzt Rolf Mahlke muss sein Auto ebenfalls in Prag zurücklassen und bekommt es nach dem Ende der DDR zurück. Allerdings befindet es sich nicht mehr in Prag, sondern in einem Lager der Stasi nahe Berlin.

Junge Frau schaut frontal in die Kamera.
Bildrechte: MDR

Im Sommer 1989 erreicht die Zahl der Menschen, die über die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau, Budapest, aber auch Ost-Berlin in den Westen fliehen wollen, ihren Höchstwert. Am 22. August muss etwa die Botschaft in Prag wegen Überfüllung für den Publikumsverkehr geschlossen werden.

Schließlich wird die Ausreise der Menschen mit dem berühmten Satz final: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." – der Rest geht im Jubel unter. Mehr als 4.000 DDR-Flüchtlinge liegen sich im Hof der Prager Botschaft vor Freude in den Armen. Für die Flucht in den Westen müssen sie einiges zurücklassen, darunter auch ihre Autos. Diese bleiben geparkt am Straßenrand oder auf Wiesen und Feldern zurück.

Verlassene Autos von Ostdeutschen, die am 4. Oktober 1989 vor der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht suchten.
Verlassene Autos von Ostdeutschen, die am 4. Oktober 1989 vor der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht suchten. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Die Fahrzeuge stehenzulassen, war eine bedeutende Sache

Rolf Mahlke

Zahnarzt Mahlke reist 1989 aus

Ein Mann und eine Frau
Das Ehepaar Mahlke 1986 Bildrechte: Dr. Rolf Mahlke

"Diese Fahrzeuge bei der Flucht einfach stehenzulassen, war eine sehr bedeutende Sache für die Flüchtenden. Das war ein Heiligtum", betont Rolf Mahlke. Immerhin hatte man zuvor meist lange auf das eigene Auto gewartet. Der studierte Zahnarzt Mahlke reist 1989 ebenfalls über die Prager Botschaft in den Westen aus: "Wir sind mit unserem roten Wartburg 353, den ich abgöttisch geliebt habe, nach Prag gefahren und meinten, ihn nie wiederzusehen." Das sollte sich als Irrtum entpuppen.

Mahlke erzählt, wie seine Eltern im März 1990 einen unerwarteten Anruf bekommen: Sie sollen nun den alten Wartburg abholen. Mittlerweile befindet sich das Fahrzeug in der Nähe von Berlin.

Rolf Mahlke ahnt, dass sein roter Wartburg Teil einer größeren Geschichte ist und beginnt, im Stasi-Unterlagen-Archiv zu recherchieren. Für die überraschende Rückführung des Wagens aus Prag in die DDR ist das Ministerium für Staatssicherheit verantwortlich.

Die Stasi führt die Autos der geflüchteten Bürger zurück

Dass die DDR das Eigentum der geflüchteten Bürger als ihres versteht, legt bereits ein Gesetz aus dem Jahr 1954 fest. Das Vermögen derjenigen, die die DDR "ohne erforderliche Genehmigung" verlassen, soll durch staatliche Treuhänder verwaltet werden. Somit schafft das Regime eine rechtliche Grundlage für die Rückführung der Gegenstände, die "Republikflüchtlingen" gehörten. Wann genau das Ministerium für Staatssicherheit damit beginnt, die Pkw der geflüchteten Bürger wieder in die DDR in großer Stückzahl "rückzuführen", ist nicht ganz klar. Rolf Mahlke erklärt: "Ich konnte bei meinen Recherchen im Bundesarchiv herausfinden, dass die Staatssicherheit schon seit 1988 offiziell gemeldet hatte, dass es ein großes Problem mit den Kapazitäten in einer der Lagerstätten gibt." Möglicherweise hatte das MfS also zu diesem Zeitpunkt schon hunderte Pkw dort gesammelt.

1989: Aktion "Zündspule" beginnt

Ab dem Sommer 1989 beginnt dann der Transport von Autos aus der Tschechoslowakei und Ungarn im großen Stil. Der Name der Aktion: "Zündspule". Nun bringt das Ministerium für Staatssicherheit die Pkw von DDR-Flüchtlingen wieder zurück in die DDR. Dazu kommen die an der polnischen Grenze abgestellten Autos, die das MfS ebenfalls wieder einsammelt. Schätzungsweise kommt man so insgesamt auf etwa 2.500 Pkw. Mitunter führt das zu Konflikten:  Von Ungarn fordert die DDR die Herausgabe von 300 Autos, die Geflüchtete dort zurückgelassen haben, nach ungarischem Recht gehören die Fahrzeuge aber noch ihren ursprünglichen Besitzern – und nicht der DDR.

Sammlung von Pkw am Kohlberg bei Pirna

Gesammelt werden die Autos unter anderem auf dem Truppenübungsplatz am Kohlberg bei Pirna. Eigentlich gehört das Gelände der NVA, aber im Herbst 1989 nimmt das MfS das Gelände in Beschlag und nutzt es als eine Art Parkplatz. 1.500 Pkw stehen dort nach Einschätzung von Regionalhistoriker Rainer Rippich zeitweise. Drei Wochen lang ist das MfS auf dem Gelände tätig. Die Wägen werden gewartet, betankt und anschließend weitergeleitet. Bis zu 250 Stasi-Mitarbeiter waren daran beteiligt. "Die Autos, die transportfähig waren, hat man nach Berlin weitergeleitet", sagt Rippich. Berlin, oder etwas genauer: Freienbrink.

Zentrale Asservatenkammer in Freienbrink

In Freienbrink befindet zu diesem Zeitpunkt eine "Zentrale Versorgungsbase für das MfS". Ein 200 Hektar großes Sperrgebiet im Osten Berlins. Für das MfS hat Freienbrink mehrere Funktionen: Logistikzentrum, Ausbildungsstätte, Stasi-Kinderferienlager. Postsendungen aus dem Westen werden hier heimlich geplündert. Und auch die beschlagnahmten Pkw werden in Freienbrink unterbracht. Es ist im Grunde eine Großasservatenkammer für Autos. Hier steht auch der rote Wartburg von Rolf Mahlke. Nach dem Anruf 1990 holt die Familie den alten Wartburg ab und muss ihn aus finanziellen Gründen anschließend verkaufen.

Aber die Aktion "Zündspule" lässt Mahlke nicht los. Bei seiner Recherche in den Stasi-Unterlagen stößt er auf ein Foto, auf dem er seinen Wartburg in Freienbrink erkennt. "Es ist schon unfassbar, dass ich so viele Jahre später genau unser Auto dort sehen konnte", anhand einiger unverwechselbarer Details habe er den Pkw ohne Zweifel identifiziert.  

Pkws auf einem Betriebsgelände
Auf diesem Foto konnte Rolf Mahlke seinen alten Wartburg erkennen. Es ist der rote Wagen im unteren rechten Bildabschnitt mit einer weißen Kappe auf dem Schiebedach. Bildrechte: Bundesarchiv

Unfassbar, dass ich so viele Jahre später genau unser Auto dort sehen konnte

Rolf Mahlke

Autoverlust in Prag

Bei seinen Recherchen stößt Rolf Mahlke auf einige skurrile Geschichten, die sich ähnlich wie seine eigene zwischen Prag und der DDR abgespielt haben. Beispielsweise der Bericht eines Berufstänzers aus der Tschechoslowakei, der in Prag seine Mutter besuchte und sein Auto, einen Skoda, am Straßenrand abstellte. "Zwei Stunden später war das Auto weg und wurde bereits in die DDR rückgeführt", erzählt Mahlke. Den Pkw hatte der Tänzer in der DDR zugelassen. Weil das MfS nicht zwischen "normalen" DDR-Autos in Prag und den Autos der Geflohenen unterscheiden kann, trifft die Rückführung mitunter Menschen, die mit ihrem Auto eigentlich noch selbst weiterfahren wollten.

Schwarz-Weiß-Foto mit Autos vor einem Gebäude, die abgeschleppt werden.
Autos mit DDR-Kennzeichen werden in Prag abgeschleppt. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Mit der Rückführung in die DDR verfolgt das MfS zwei Ziele: Zum einen soll dem Pkw-Mangel im eigenen Land mit den Gebrauchtwagen etwas entgegengesetzt werden. Zum anderen möchte das MfS mit dem Verkauf der Autos Geld verdienen. Wie viel Geld mit den rückgeführten Autos verdient wurde, lässt sich schwer nachvollziehen. Menschen, die ihren Pkw vor dem Ende der DDR aus Freienbrink zurückforderten, bekommen diesen auch – allerdings stellt die Stasi ihnen die durch die Rückführung entstandenen Kosten in Rechnung, so zumindest geht es aus den Recherchen von Rolf Mahlke hervor: "In einem Fall sollten für den Rückkauf von einem Skoda, der aus Budapest kam 5.000 Mark gezahlt werden". Zwei bis drei solcher Zahlungsaufforderungen habe er gefunden – ob die entsprechenden Summen dann auch tatsächlich gezahlt wurden, könne er nicht sagen, betont Mahlke.

Mit dem Ende der DDR gibt es 1990 für viele ehemalige Besitzer der Fahrzeuge in Freienbrink allerdings ein gutes Ende und eine Zusammenführung mit ihrem Pkw. Wie auch Rolf Mahlkes Eltern können sie die Fahrzeuge dann einfach in der ehemaligen Stasi-"Aservatenkammer" abholen.

Der Erhalt der Akten, ein "Glück der Geschichte"

Dass er die Geschichte seines alten roten Wartburgs und vieler anderer Pkw derart konkret nachvollziehen konnte, ist für Mahlke ein "Glück der Geschichte". Obwohl die "Aktion Zündspule" ein Beispiel dafür ist, wie das MfS beschlagnahmte Gegenstände als Asservate sicherstellte und dabei das Ziel verfolgte, sie gewinnbringend zu verkaufen, erschienen die entsprechenden Beweise den Mitarbeitern der Stasi offenbar nicht drastisch genug, um sie zu vernichten. Rolf Mahlke sagt: "Es war einfach so unwichtig, dass niemand die entsprechenden Akten geschreddert hat."

Es war einfach so unwichtig, dass niemand die entsprechenden Akten geschreddert hat

Rolf Mahlke

Links/Studien

Rolf Mahlke hat die Ergebnisse seiner Recherchen selbst publiziert - und zwar im Magazin "79oktan", Ausgabe 1/2024.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 2 | 30. September 2024 | 14:00 Uhr

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