Forschungspolitik in der DDR Der Gerichtsmediziner Otto Prokop und sein Verhältnis zur Stasi
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06. Dezember 2021, 11:53 Uhr
Otto Prokop gilt als einer der führenden Rechtsmediziner des vergangenen Jahrhunderts. Der Österreicher war Lehrstuhlinhaber an der berühmten Charité – mitten im Kalten Krieg. Er selbst hielt sich für einen der Wahrheit verpflichteten Wissenschaftler und damit für völlig unpolitisch. Doch konnte ein Mann in solch einer Position wirklich jenseits politischer Zwänge arbeiten? Die Akten erzählen die Geschichte ein wenig anders.
Keine Frage, der Arzt Otto Prokop (1921–2009) gehörte zu den interessantesten Figuren seines Fachgebietes, der Gerichtsmedizin – oder Rechtsmedizin, wie sie heute heißt. Der charmante Professor mit dem Wiener Akzent, der, stets mit Fliege, an der Charité sonntags Vorlesungen über berühmt-berüchtigte Todesfälle für die interessierte Öffentlichkeit hielt, war zu DDR-Zeiten über Berlin hinaus bekannt und beliebt. Prokop vertrat sein Fach mit ganzer Seele. Er konnte sein Publikum mit seinen Geschichten verzaubern, was nicht vielen Wissenschaftlern gelingt.
Prokop wechselt von Bonn nach Ost-Berlin
In der DDR war er ein Unikum. Nach dem Krieg war der gebürtige Österreicher zunächst in Bonn sesshaft geworden, wo er seine wissenschaftliche Karriere begann. 1957 wechselte er mitten in der heißen Phase des Kalten Krieges aus dem Westen in den Osten. Gemeinsam mit seiner Frau ging er von Bonn nach Berlin und wurde dort Direktor des bekannten Instituts für Gerichtsmedizin in der Hannoverschen Straße.
Politik war beim Wechsel von Bonn nach Berlin vermutlich nicht im Spiel. Prokop stammte aus einer wohlhabenden Intellektuellen-Familie. Bei dem Umzug nach Ostberlin ging es auch um interfamiliären Wettstreit, wer von den Prokop-Brüdern wo Karriere macht - und das Institut in Berlin war weltbekannt. Die Grenzen waren vor dem Mauerbau noch offen, auch wenn die Wanderung eher von Ost nach West ging. Unter den Medizinprofessoren der Zeit gab es aber durchaus einige, die den umgekehrten Weg aus dem Westen in den Osten gingen.
Bei diesem für sein Leben bedeutsamen Schritt, so schilderte er später, hatte er "nicht die geringsten politischen Bedenken". Der gebürtige Österreicher blieb trotz zunehmender internationaler Anerkennung oder trotz der politischen Umstände der DDR in den kommenden Jahrzehnten treu. Allerdings war er als österreichischer Staatsbürger auch privilegiert, wurde in der DDR hofiert und konnte, anders als die meisten DDR-Bürger, frei reisen.
"Westliche Verleumdungskampagne": Prokop kann Vorwurf gegen DDR widerlegen
Besondere Furore machte Otto Prokop 1983: Der Hamburger Rudolf Burkert hatte bei einer Grenzkontrolle in Berlin einen Herzinfarkt erlitten und war gestorben. Im Westen wurde gemutmaßt, dass Burkert dem unmenschlichen Regime der DDR zum Opfer gefallen war. Franz Josef Strauß sprach von Mord. Dank Prokop gelang es der DDR, der "westlichen Verleumdungskampagne" einen Spiegel vorzuhalten. Prokop wies nach, dass Burkert nicht durch Gewalt von außen, sondern infolge eines vorgeschädigten Herzens gestorben war. Er trug damit entscheidend zur öffentlichen Aufklärung des Todesfalls bei. Die innerdeutsche Lage blieb jedoch angespannt, Erich Honecker sagte seinen Besuch in Bonn ab.
Kein "Altar" für Ulbricht: Nur der Wissenschaft verpflichtet?
Wie viele andere führende DDR-Wissenschaftler musste auch Prokop sich nach der Wende fragen, inwieweit er das einstige Regime unterstützt hatte. In einem Gespräch schilderte er 1992 Konflikte, mit denen er sich in seiner Amtszeit hatte herumschlagen müssen: So habe er sich einst dafür rechtfertigen müssen, dass er keinen "Altar" für den DDR-Staatschef Walter Ulbricht aufstellen wollte. Er habe sich zudem geweigert, die Dienstpost seiner Mitarbeiter zu kontrollieren und sei für ungenehmigte Interviews gemaßregelt worden. Er selbst, so meinte Prokop, sei "unpolitisch" gewesen, er habe sich stets "aus der ganzen Politik herausgehalten".
Unwillkürlich möchte man heute fragen, wie das möglich gewesen sein soll. Klar, Prokop hatte als Ausländer mit österreichischem Pass einen Sonderstatus. Er war nie Mitglied der Partei oder Gewerkschaft gewesen. Aber als Lehrstuhlinhaber, insbesondere an einer renommierten Einrichtung wie der Charité, konnte er sich keineswegs politischen Vorgaben entziehen. Insbesondere die Tätigkeit eines Gerichtsmediziners musste zwangsläufig "politische" Inhalte haben. Prokops Lehrstuhl war eng verknüpft mit der Sektion Kriminalistik der Universität. Unter Prokop wurde der Nachwuchs von Volkspolizei und Staatssicherheit ausgebildet. Der Mediziner selber erwähnte, dass er bei den unzähligen Grenzkontrollen viele ehemalige Studenten, nunmehr in Offiziersuniform, wieder traf. Die Stasiakten weisen außerdem gemeinsame Forschungsprojekte des Instituts mit dem MfS nach. Prokop fertigte auch Gutachten für die Staatssicherheit an.
Prokop obduzierte Maueropfer
Außerdem obduzierten die Berliner Gerichtsmediziner prominente Persönlichkeiten und auch – zumindest bis Anfang der 1970er-Jahre – die an der Mauer erschossenen Flüchtlinge. Mit dem Wissen um wahre Todesumstände erlangte Prokop somit sensible Informationen, die in der Regel der Bevölkerung nicht zugänglich waren.
Ein besonders heikler Fall kann das gut veranschaulichen. Im Jahr 1964 obduzierte Prokop den an der Berliner Mauer erschossenen Grenzsoldaten Egon Schultz. Er kam zu dem Ergebnis, dass Schultz durch Schüsse einer Kalaschnikow der eigenen Leute ums Leben gekommen sein musste. Die DDR verkündete ein anderes Ergebnis. Sie behauptete, Schultz sei von einem "westlichen Agenten" ermordet worden. Der Tote wurde zum Märtyrer stilisiert. Prokops Bericht blieb geheim, erst nach der Wende äußerte sich der Rechtsmediziner öffentlich zu den Todesumständen. Weiter stand er zu seinem Credo: "Die Klasse der Medizin war unpolitisch", denn schließlich hatte er die Frage nach den Todesumständen "sachlich beantwortet". Dass die öffentliche Berichterstattung im Fall von Schultz sein Obduktionsergebnis falsch darstellte, kritisierte er nicht.
Gute Kontakte zur Staatssicherheit
Insgesamt unterhielt, da lassen die Akten keinen Zweifel, Otto Prokop gute Kontakte zur DDR-Staatssicherheit. Regelmäßig erhielt der Institutsdirektor MfS-Auszeichnungen. Anlässlich des 30. Stasi-Geburtstags bekam Prokop ein Ehrengeschenk Erich Mielkes für "hervorragende Unterstützung des MfS". Neben ihm wurde die berüchtigte ehemalige DDR-Justizministerin Hilde Benjamin ausgezeichnet.
Doch auch wenn es vertraulich zuging zwischen Prokop und den Offizieren der Staatssicherheit: Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen und Professoren der Gerichtmedizin – auch an der Charité – ließ er sich nicht als Spitzel anwerben.
Natürlich hatte die Stasi auch einen Informanten, der sie über Prokop selbst regelmäßig informierte. Prokops Assistent, "Referent" und Fahrer unterstützte die Stasi als IM Schöbel. Ob Prokop davon wusste, ist unklar. Zumindest unterscheiden sich die Berichte des IM wesentlich von anderen Spitzelberichten: Sie sind stets wertschätzend in Bezug auf Prokop.
Prokop darf Blutprodukte für den Westen herstellen
Ein gegen den Mediziner gerichtetes Wirken der Staatssicherheit ist nicht zu erkennen. So ließ die Stasi Prokop gewähren, als er auf eigene Faust Blutprodukte herstellte, um sie im Westen gegen Devisen zu verkaufen. Sein Institut brauchte dringend Geld – für Technik, selbst für Kopierpapier. Prokop wollte die eigene Forschung trotz der wirtschaftlichen Misere am Laufen halten. Doch auch angesichts der enormen Probleme hielt Prokop weiter zur DDR. So versuchte er zu verhindern, dass eine Sekretärin in den Westen ausreisen konnte. Er kritisierte außerdem Berufskollegen, die die Zustände im Gesundheitswesen nicht mehr aushielten und in die Bundesrepublik flüchteten. Das sei gegen den Ethos des Arztes.
Kritik an der medizinischen Misere in der DDR
Dabei war Prokop die Lage der DDR durchaus bewusst. Rein von der technischen Ausstattung in seinem Forschungsfeld, so klagte er in den 1980er-Jahren, sei die DDR 20 Jahre hinter dem Westen zurück. Die Lage sei "katastrophal". Sein Resümee jedoch mag heute verwundern: Er, so sagte Prokop, habe lediglich noch Vertrauen zum MfS. Hier seien "seine besten Freunde". Nur das MfS würde noch "im Sinne der DDR arbeiten" und ihn unterstützen. Ohne das MfS würde sein Institut den "Weltruhm" verlieren.
Hintergrund dieser Aussagen ist offenbar, dass Prokop beim MfS regelrecht hofiert wurde. In dem starren und bürokratisch-konkurrierenden Hochschulsystem litt vermutlich auch er mit seinem Institut unter der Mangelwirtschaft. Seine Sorgen wurde er jedoch stets los beim MfS. Prokop war ein prominenter Professor aus dem Westen. Prokop dachte das, was viele Stasileute auch von sich glaubten: Sie seien jene, die für den gerechten Aufbau der Gesellschaft sorgten.
Noch heute wird Prokop als ein bemerkenswerter Arzt und Gerichtsmediziner gewürdigt. Betont wird stets sein enormer Einsatz für die Wissenschaft im Dienst einer "höheren Sache". Doch auch, wenn er sich selbst als unpolitischer Geist sah, fernhalten von den gesellschaftspolitischen Realitäten konnte auch Prokop sich nicht. Im Gegenteil, Prokop war verstrickt im System der DDR.
Unser Autor
Dr. Rainer Erices hat Humanmedizin und Philosophie studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ethik in der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sein Forschungsgebiet ist das Gesundheitswesen der DDR. Insbesondere beschäftigt er sich mit Themen wie: ethische Fragen in der DDR-Gesundheitspolitik,
deutsch-deutsche Gesundheitspolitik, Aufarbeitung von NS-Medizinverbrechen in der DDR sowie Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie vor 1990.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR FERNSEHEN | Charité - Geschichten von Leben und Tod | 19. Januar 2021 | 22:10 Uhr