In Moskau heimlich erschossen Stalins unbekannte Opfer aus Ostdeutschland
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17. Juli 2020, 15:54 Uhr
Rund 1.100 Deutsche wurden in den frühen 1950ern durch sowjetische Militärtribunale zum Tod verurteilt. Einige hatten sich an Widerstandsaktionen gegen das SED-Regime beteiligt, viele aber gerieten aufgrund erfundener Vorwürfe in die Fänge des Terrorapparats. MDR ZEITREISE hat mit der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, über dieses dunkle Kapitel der Nachkriegsgeschichte gesprochen.
Während die Todesurteile der sowjetischen Militärtribunale in den ersten Nachkriegsjahren oft noch gegen Kriegsverbrecher ausgesprochen wurden, richteten sie sich mit der Zeit zunehmend gegen Regimekritiker. Ab 1950 dienten sie fast ausschließlich nur noch dazu, den Widerstand gegen die Stalinisierung der DDR zu brechen. Rund 1.100 Deutsche wurden zwischen 1950 und 1953 durch sowjetische Militärtribunale unter fadenscheinigen Vorwürfen und nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch zum Tod verurteilt, nach dem Prozess in die Sowjetunion verschleppt und in den Kellern der berüchtigten NKWD-Gefängnisse Butyrka und Lubjanka hinterrücks erschossen.
"Tod durch Erschießen"
Einer von ihnen war der Mathematiker Dr. Helmut Sonnenschein. Er wurde 1950 in Naumburg verhaftet, nachdem er Einwände gegen die Zwangseinquartierung weiterer Menschen in seinem Haus geäußert hatte. Durch ein sowjetisches Militärgericht in Berlin zum "Tod durch Erschießen" verurteilt, wurde er am 4. Juli 1951 in Moskau hingerichtet. Seine Ehefrau erfuhr erst 1990 von der Exekution. Die vollständige Rehabilitierung durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation erfolgte 1994.
Gedenken an Stalinismus-Opfer
Heute ist zum Gedenken an dieses Opfer des Stalinismus eine Gedenktafel an seinem letzten Wohnort in Naumburg agebracht worden. Es ist die erste Gedenktafel, die im Rahmen der Aktion "Die letzte Adresse" in Sachsen-Anhalt angebracht wird. Ähnlich den "Stolpersteinen" für Opfer des Holocaust, sollen diese Tafeln an diejenigen erinnern, die unschuldig dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen. Die Idee dafür stammt aus Russland.
MDR ZEITREISE hat mit der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, über diese bislang kaum beachtete Opfergruppe gesprochen.
Wer fiel den sowjetischen Militärtribunalen zum Opfer?
Ein Teil hat tatsächlich Widerstand gegen das Regime geleistet. Es gab zum Beispiel die „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ (KgU). Ihre Mitglieder haben sich gesagt, wir möchten hier kein stalinistisches System, denn wir haben den Nationalsozialismus hinter uns, wir haben schon eine Diktatur erlebt, wir wollen nun ein freiheitliches Deutschland. Sie haben Flugblätter verteilt und Aufklärungsarbeit gemacht. Außerdem gab es gelegentlich Menschen, die tatsächlich Spionage betrieben. Aber in den weitaus meisten Fällen haben die Opfer sich nicht wirklich etwas zu Schulden kommen lassen. Die Vorwürfe waren aus der Luft gegriffen und trafen die Beschuldigten wie aus heiterem Himmel.
Wie kann man ins Visier des Terrorapparats? Wenn man sich die Schicksale anschaut, merkt man schnell, es brauchte gar nicht viel…
In der Tat. Es war eine Zeit der Denunziation und es reichte der bloße Hinweis: Da hätte etwas passieren können. Ein Beispiel, das ich besonders bedrückend finde, ist die Klosterschule Roßlau. Dort hat im Herbst 1945 der Schulbetrieb wieder angefangen. Es war eine unsichere Zeit kurz nach dem Krieg, es wurde viel gestohlen. Da kam die Hausleitung auf die Idee, Nachtwachen aufzustellen. Das wurde als Widerstandsaktionen gewertet. Ein Hausmeister und zwei Lehrer wurden zum Tode verurteilt und mehrere Schüler zu langjähriger Lagerhaft. Das war völlig unangemessen, weil es dort gar keine Widerstandsgruppe gab, die Leute wollten sich lediglich schützen.
Bei Doktor Sonnenschein, an den wir nun mit einer Tafel gedenken, war es so, dass in seinem Haus noch mehr Leute einquartiert werden sollten. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, weil das Haus schon überbelegt war, und am Ende sah er sich mit dem Spionage-Vorwurf konfrontiert. Oft reichte es, Kontakte im Westen zu haben oder etwas Regimekritisches gesagt zu haben. Oder eine Denunziation von Nachbarn, die vielleicht Interesse an der Wohnung oder an dem Haus des Denunzierten hatten. Auch Dr. Helmut Sonnenschein ist von einem Freund denunziert worden, sein Brief wurde im Zusammenhang mit der Aufarbeitung in den Unterlagen der Staatssicherheit gefunden. Es gab natürlich auch Denunziation durch Menschen, die sich selber gefährdet fühlten und durch Denunziation ihre Haut retten wollten. Das ist eine ganz breite Mischung der Niedertracht.
Wie sahen die Ermittlungen aus?
Darüber hat einer der verurteilten Schüler, Dietrich Nolte, aus Roßlau berichtet. Es gab kein normales Verhör: Wer sind Sie, wo waren Sie usw. Es wurde sofort Druck ausgeübt, er sollte zugeben, einer Widerstandsorganisation anzugehören und Waffen zu besitzen. Er wurde gefoltert und geschlagen. Alle aus der Gruppe hatten Todesangst, weil sie nicht wussten, ob sie es überhaupt überleben. Und die sowjetischen Offiziere haben ihnen ihre Macht auch deutlich gemacht: Es liegt in unserer Hand, ob du hier wieder lebend rauskommst, du hast hier keine Rechte. Das ist diesen Menschen gesagt und gezeigt worden.
Die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) Die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) sollten ursprünglich der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern dienen. Mit der Zeit dienten sie aber zunehmend (und nach 1950 fast ausschließlich) dazu, echte und vermeintliche Regimekritiker und Mitglieder von Widerstandsgruppen auszuschalten. Die erhobenen Vorwürfe der Spionage und Sabotage waren meist aus der Luft gegriffen. Die Beschuldigten wurden nach dem sowjetischen Strafrecht angeklagt, dessen "Gummiparagraphen" es möglich machten, fast jeden zu verurteilen. Die Geständnisse wurden häufig mit Folter erpresst. Neben Todesstrafe wurde langjährige Lagerhaft verhängt.
Welchen Zweck verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht mit diesem Terror?
Ich denke, dass es zum Teil einfach ein Ausläufer dieses blinden stalinistischen Terrors in der Sowjetunion war, der sich verselbständigt hatte. Gleichzeitig verfolgte dieser Terror aber auch ein gewisses Ziel, nämlich eine politische Ordnung in Ostdeutschland zu installieren. Denn er hat auch die in Freiheit verbliebene Bevölkerung beeinflusst. Man bekam mit, dass Leute verschwanden, vielleicht hat man den einen oder anderen sogar noch einmal irgendwo am Bahnhof – auf Transport – gesehen und bemerkt, wie zerschunden er aussah. Das war ein klares Signal: Passt auf, dass es euch auch nicht so ergeht, mit euch können wir das ganz genauso machen. Ich glaube, dass diese Erfahrung der Angst, dieses Ausgeliefertseins sehr lange nachgewirkt hat.
Denn wenn plötzlich eine Militärkompanie in eine Schule einrückt, um beim Beispiel Roßlau zu bleiben, und ein paar Leute mitnimmt, dann weiß man nicht, ob man morgen nicht der Nächste ist. Diese Art, Menschen rechtlos zu machen, hat eine unglaubliche Unsicherheit bewirkt und natürlich wollte man nicht auf der Seite derjenigen stehen, die verhaftet werden. Und so sind ganz viele Menschen plötzlich „gute Kommunisten“ geworden. Aber selbst das hat sie nicht immer davor bewahrt, vor ein sowjetisches Militärtribunal zu kommen.
Auch das fällt auf, dass viele SED-Mitglieder oder Staatsfunktionäre in diese Terror-Maschinerie hineingerieten. Ist das nicht paradox?
Das ist gar nicht paradox, das war eine Art Selbstbereinigung der Partei. Wenn man sah, Genosse XY ist nicht ganz auf Parteilinie, der hat eine andere Meinung, zum Beispiel zu den geforderten Normerhöhungen in der Produktion, dann wurde er nicht als ein Kritiker in den eigenen Reihen betrachtet, der es eigentlich gut meint, sondern als Feind, den man bekämpfen muss. Schon während des Krieges fielen viele deutsche Kommunisten, die sich in die Sowjetunion hatten retten können, dem Stalin-Terror zum Opfer. Die Gruppe um Walter Ulbricht, die nach dem Krieg zurückkam, das waren diejenigen, die extrem gut angepasst waren – und die haben dieses stalinistische System hier in Ostdeutschland implementiert.
Warum wurden die Todesurteile in Moskau vollstreckt? Das war doch ein enormer logistischer Aufwand, die Verurteilten dorthin zu verlegen…
Das ist eine ganz interessante Frage. Zwischen 1944 und 1947 wurden die Todesurteile in Deutschland vollstreckt. Das wurde aber nicht in den Gebäuden der Militärtribunale gemacht, sondern im Wald oder auf einem Acker. Das hatte den Nachteil, dass es natürlich auch gesehen wurde. Die Schüsse hörte man meilenweit. Außerdem gab es Alkoholprobleme bei den Hinrichtungskommandos. Das hatte wiederum zur Folge, dass die Opfer nicht sofort tot waren oder die Leichen nicht ausreichend tief vergraben und von den Einheimischen entdeckt wurden. Das alles wollte man unterbinden.
Deshalb wurden dann in der zweiten Welle zwischen 1950 und 1953 nach der Ablehnung der Gnadengesuche die Hinrichtungen im Moskauer Butyrka Gefängnis vollstreckt, die Leichen eingeäschert und dann die Asche auf dem Donskoje Friedhof in Moskau in Massengräbern verscharrt. Insgesamt wurden ca. 1.000 Deutsche zum Tode verurteilt und hingerichtet, davon ca. 140 aus Sachsen-Anhalt. Mehr als 2/3 von ihnen wurden nach 1990 posthum durch die russische Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert.
Warum ist es wichtig, dieser Opfer zu gedenken?
Es ist ein wichtiger Beitrag zum deutsch-russischen Dialog. Die Aktion stammt aus Russland. Dort wird schon seit einigen Jahren mit Tafeln an die Opfer des Stalin-Terrors erinnert, vergleichbar mit den Stolpersteinen für die jüdischen Holocaustopfer bei uns. Wir führen diese Aktion mit Memorial Deutschland, die eng verbunden sind mit Memorial in Russland durch, dadurch hat sie einen versöhnenden Charakter. Denn wir wollen verhindern, dass die Opfer der deutschen Kriegsverbrechen in der Sowjetunion gegen deutsche Stalinismus-Opfer aufgewogen und dadurch relativiert werden.
"Die letzte Adresse" Vor sieben Jahren schlossen sich Mitarbeiter des russischen Memorial-Netzwerkes, Historiker und Journalisten in Moskau zusammen und riefen das Projekt "Die letzte Adresse" ins Leben. Gedenktafeln werden an Häusern angebracht, in denen die betroffenen Menschen zuletzt gelebt hatten, bevor der Geheimdienst sie abholte, sie hingerichtet wurden oder in Lager des Gulags kamen. In Russland hängen bereits zahlreiche Tafeln an Häusern in Städten von Moskau bis zum Baikalsee. In Deutschland gibt es mit Naumburg die zweite "letzte Adresse", die erste ist im thüringischen Treffurt.
Außerdem können wir anhand dieser konkreten Schicksale den hohen Wert der Rechtsstaatlichkeit herausstellen, wo der Angeklagte einen Anwalt hat, wo es Beweise geben muss, wo es für den Angeklagten menschenwürdig zugeht. Denn die Angeklagten vor den sowjetischen Tribunalen hatten keine Rechte, keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Hier kann man die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung als Teil unserer Demokratie schätzen lernen – eine sehr wichtige Lektion aus diesen Schicksalen.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell | 17. Juli 2020 | 17:45 Uhr