Nachwuchs für den Klassenkampf Die Schule der Freundschaft in Staßfurt
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11. Oktober 2021, 05:00 Uhr
DDR-Provinz 1982. Die Staßfurter sind Zementstaub in der Luft und Risse in den Häusern gewohnt. Durch die Kaligruben unter der Stadt senken sich ganze Straßenzüge ab. Es gibt wahrlich schönere Plätzchen im Sozialismus. Doch genau hier, gleich neben dem "Fernsehgerätewerk Friedrich Engels" – der Geburtsstätte des DDR-Fernsehers – lässt Margot Honecker ein lebendiges Zeichen der Solidarität errichten: Die Schule der Freundschaft. Ab 1982 leben 900 Schüler aus Mosambik und ab 1985 zusätzlich 400 namibische Schüler in einer Plattenbausiedlung am Rande der kleinen Industriestadt.
"In unserem Dorf wusste niemand was das ist: die DDR", erinnert sich Paulino Miguel. Und doch scheint es eine einmalige Chance zu sein: auf Bildung und Teilhabe. Das kleine Örtchen Staßfurt in Sachsen-Anhalt – ein bisschen wird es für den zehn Jahre alten Jungen damals zum Tor zur Welt. Raus aus dem Vielvölkerstaat Mosambik, das Anfang der 1980er Jahre zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Paulino ist einer von insgesamt 900 Schülern, die damals ausgewählt werden.
DDR schafft sich Nachwuchs für den Klassenkampf
Mosambik hatte 1975 seine Unabhängigkeit von der portugiesischen Kolonialmacht erkämpft und orientierte sich auch im Bildungswesen an den sozialistischen Bruderstaaten. Die DDR war Vorbild, die Regierung unter Samora Marchel wollte in Zukunft allen Kindern gleiche Bildungschancen ermöglichen: aus allen Teilen des Landes, aus verschiedenen Ethnien, Religionen und Muttersprachen sollte eine neue sozialistische Arbeiterklasse geschmiedet werden. Die in die DDR entsandte Armada sollte das Land in einigen Jahren voranbringen: als ausgelernte Facharbeiter und Nachwuchs für den Klassenkampf.
Margot Honeckers Prestigeobjekt: Die "Schule der Freundschaft"
Auf Seiten der DDR geplant, entschieden und durchgesetzt wurde das alles vom Volksbildungsministerium unter Margot Honecker – ein Prestigeprojekt also. Doch in der DDR ahnt 1982 niemand, vor welch große Herausforderungen das Bildungsprojekt alle Beteiligten noch stellen wird. In der kleinen Industriestadt Staßfurt wird ein abgeschirmter Internatskomplex extra für die mosambikanischen Schüler errichtet. Für die Einheimischen ist das Schulgelände tabu: Betreten verboten.
Und die 900 afrikanischen Kinder sind dann im Stadtbild ein unerwartetes Ereignis. Die Lehrer und Pädagogen wohnen damals mit auf dem Internatsgelände, unter ihnen auch Erzieher Herbert Hofmann, dessen kleine Tochter Christiane plötzlich ganz viele afrikanische Jugendliche als Freunde hat. Nach außen will sich die DDR von ihrer besten Seite zeigen: Gemeinsam geht es mit Sonderzügen ins Ferienlager, und Jahrestage und Jubiläen werden regelmäßig staatstragend zelebriert.
Die Jugendlichen bleiben auf der Strecke
Doch die Realität ist weniger vielversprechend: Es gibt viel zu wenig Erzieher für die große Anzahl an Schülern aus einer völlig anderen Kultur, und es gibt kaum Freizeitmöglichkeiten auf dem Schulgelände. Etliche Pädagogen engagieren sich deshalb privat, leisten reichlich Überstunden und versuchen, die strukturellen Probleme vor Ort aufzufangen.
Zu Weihnachten nimmt Familie Hofmann, wie auch viele andere Staßfurter Gastfamilien, mehrere Schüler auf. Tatsächlich nämlich ist der Bildungserfolg ziemlich einseitig definiert: zentral ist, den gesellschaftlichen Zielen der DDR und den wirtschaftlichen Erfordernissen Mosambikes Genüge zu tun. Die Kinder und Jugendlichen zu selbstbestimmten, mündigen Bürgern zu machen, bleibt mehr oder weniger dem freiwilligen Engagement der Pädagogen überlassen. "Die Schule der Freundschaft hatte eine positive Seite, dass wir die Ausbildung machen konnten", sagt Paulino Miguel heute.
Aber gleichzeitig die negative Seite, dass es einfach den menschlichen Teil gar nicht gab. Warum ist man ein Freundesland, wenn man die Freunde nicht trifft oder treffen darf?
Die Stimmung in Staßfurt kippt
Die Teenager haben kein Mitspracherecht, selbst nicht bei der Wahl ihrer Berufe. Sie rebellieren immer öfter gegen den streng reglementierten Alltag. Auch draußen, in der Stadt, kommt es immer offener zu Protest. Denn in Teilen der Staßfurter Bevölkerung brechen sich Neid und Missgunst Bahn. Man vermutet, dass den Schülern etwas geschenkt wird, was für die normale DDR-Bevölkerung nicht zu erwerben ist, schicke Kleidung oder Südfrüchte etwa. Die Pädagogen stehen den Gerüchten weitgehend ohnmächtig gegenüber. Die Stimmung in der Bevölkerung kippt, immer öfter ist zu hören: "Die Ausländer sollen verschwinden!"
SED und FRELIMO, die sozialistische Partei in Mosambik, halten jedoch an Ideologie, Konzept und Verträgen fest, selbst dann noch, als das Bildungsprojekt schon längst verloren ist: Nach dem Flugzeugabsturz des mosambikanischen Präsidenten Samora Machel im Oktober 1986 zerfällt das Land endgültig im Bürgerkrieg und wendet sich vom Sozialismus ab. Doch in der DDR versucht man den Schülern, die wahre Situation in ihrer Heimat zu verheimlichen. "Es wurde immer noch von der Frelimo erzählt: Der Sieg und so weiter… Das wird alles wieder besser… Durchhalten bis zum bitteren Ende, auf deutsch gesagt", erinnert sich der damalige Erzieher Herbert Hofmann.
DDR schickt Schüler in zerstörtes Mosambik
Bis man die 900 Gastschüler dann 1988 plötzlich doch zurückschickt in ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Mosambik. Zurück in der vermeintlichen Heimat, beginnt dann die nächste Tortur. Anders als versprochen, sind sie als Facharbeiter nicht gefragt, im Gegenteil: Etliche DDR-Rückkehrer werden sofort von der Armee eingezogen. Die Regierung in Mosambik erkennt die Bildungsabschlüsse der Rückkehrer nie an, auch nach der Armeezeit finden die wenigsten eine qualifizierte Arbeit.
Wenigstens Paulino kann seine Ausbildung als Schlosser für sich nutzen. Als Vertragsarbeiter kommt er bereits 1989 in die DDR zurück, heute lebt der Erziehungswissenschaftler in Heidelberg und arbeitet in der politischen Bildung.