18.12.1979: DDR-Hilfsprogramm für Namibia Selma Kamati - ein DDR-Kind aus Namibia
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06. Dezember 2021, 15:29 Uhr
Selma Kamati gehörte zu den ersten Kindern, die am 18. Dezember 1979 aus dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Namibia in die DDR gebracht wurden. Für die Kinder aus Namibia war es eine einmalige Chance - eine Ausbildung in der DDR. Damit sollten sie später zur Elite eines freien Namibias avancieren. Elf Jahre lebte Selma Kamati in dem sozialistischen Bruderland. Sie wuchs mit einer fremden Sprache und Kultur auf, die ihr schließlich näher als ihre eigene wurde.
Es war ein verschneiter Dezembertag, als eine Interflugmaschine aus dem fernen Namibia auf dem Rollfeld des Flughafens Schönefeld aufsetzte. Die Passagiere an Bord des Flugzeuges waren allerdings keine Diplomaten oder Entwicklungshelfer, die zum Weihnachtsfest zu ihren Familien zurückkehrten. Sechs Tage vor dem heiligen Abend 1979 erreichten die ersten 80 Kinder aus Namibia die Hauptstadt der DDR. Auf der Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat sollten sie im Rahmen einer groß angelegten Solidaritätsaktion im fremden Land ihre Kindheit verbringen und zur Schule gehen.
Ein Hilfsprogramm für Kinder
Der Bürgerkrieg in Namibia war Ende der 1970er-Jahre auf seinem blutigen Höhepunkt angekommen. Auf dem von Südafrika besetzten Gebiet, das einst auch eine deutsche Kolonie gewesen war, hatte sich die South-West Africa People's Organisation (SWAPO) gegründet. Die marxistische Befreiungsorganisation formierte den Widerstand gegen die Jahrzehnte andauernde südafrikanische Herrschaft, die in den 1960er-Jahren in einen verheerenden Krieg mündete. Vor allem die Bruderstaaten des Ostblockes griffen mit humanitären aber auch materiellen Leistungen in die konfliktreiche Region ein. Als zuletzt auch die Flüchtlingslager im Nachbarland Angola nicht mehr sicher waren, bat man die DDR um ein Hilfsprogramm für Kinder.
Die wussten, der Krieg findet nicht nur in Namibia statt, sondern auch die Flüchtlingslager in Angola werden angegriffen. Aber ich glaub', in dem Moment hat man bestimmt nicht gedacht, es werden elf Jahre draus, sondern hat gedacht, es wird vielleicht aufgepäppelt und dann kommt es vielleicht in ein paar Monaten wieder.
Selma Kamati lebte von 1979 bis 1990 in der DDR
Bereits vor diesem Hilfsprogramm hatte die DDR viele Hundert Namibier aufgenommen. Sie wurden medizinisch versorgt oder absolvierten unterschiedliche Ausbildungen. Wegen des immer gefährlicher werdenden Krieges bat die SWAPO die DDR-Führung nun, die Kinder aus den Flüchtlingslagern aufzunehmen und sie zu versorgen, bis sie wieder in das eigene Land zurückkehren konnten. Die DDR sagte zu und begann eines ihrer größten und teuersten Hilfsprogramme zu planen.
Von Namibia nach Mecklenburg
Selma Kamati wurde zusammen mit den ersten 80 Kindern aus Namibia im ehemaligen Jagdschloss Bellin unweit von Güstrow untergebracht. Zusammen mit Betreuern aus Namibia sollten sie hier Zuflucht finden.
Das war alles in diesem schlossähnlichen Haus. Man hat viel gespielt, man hat gemalt, eigentlich alles, was Kinder gern machen. Man hat irgendwann das erste Eis gekriegt, also eigentlich ganz gemütlich, ganz vergnügt und eigentlich sorgenfrei.
Vor allem Deutschstunden standen auf dem Programm, damit die Kinder am Schulunterricht teilnehmen konnten. Doch auch ihre namibischen Wurzeln sollten die Kinder nicht verlieren. Die eigens dafür eingeflogenen SWAPO-Betreuer hatten allerdings selbst viele Jahre in Flüchtlingslagern zugebracht, so dass sie die eigene Kultur und Sprache den meisten Kindern nicht nahebringen konnten.
Elite für Namibia
Aus der Hilfsmaßnahme wurde eine feste Größe der DDR-Afrikapolitik. Bis 1989 wurden insgesamt 400 Kinder aus Namibia in die DDR geschickt. Doch die humanitäre Geste des sozialistischen Bruderlandes hatte auch einen politischen Anstrich. Die SWAPO-Führung soll vor allem auf die politisch-ideologische Ausbildung der Kinder geachtet haben. Sie sollten zur neuen Führungselite des Landes nach dem Krieg werden. Die DDR entsprach dem Wunsch der namibischen Genossen und schickte die älteren Kinder in die "Schule der Freundschaft" in Staßfurt. Als SWAPO-Pioniere sollten sie auf ihre künftige Rolle vorbereitet werden.
Ihr kriegt das und das, aber dafür müsst ihr auch Leistungen erbringen, müsst auch fleißig sein, müsst auch Solidaritätsgelder sammeln. Es gibt Sachen, die macht man lieber und einige nicht so, aber ich bin jetzt nicht auf den Gedanken gekommen, ich möchte jetzt nicht mehr Teil der Pionierorganisation sein, weil das ganze Land ja so gestaltet war.
Auch Selma gehörte zu den Jugendlichen, die nun in Staßfurt im Internat untergebracht waren und an der "Schule der Freundschaft" unterrichtet wurden. Die "Schule der Freundschaft" wurde einst für ein anderes wichtiges Hilfsprojekt der DDR eingerichtet. Kinder und Jugendliche aus dem ebenfalls vom Krieg heimgesuchten Mosambik wurden hier im sozialistischen Sinne erzogen.
Kinder ohne Heimat
Die Weltgeschichte hatte die DDR-Kinder und das, was man mit ihnen vor hatte, überholt. Während der Ostblock zerfiel, war auch der Krieg in Namibia endlich zu Ende und damit sollte auch das teure Hilfsprogramm auslaufen. Plötzlich hieß es für die Kinder in nur zwei Monaten nach Namibia zurückzukehren.
Da habe ich mich eigentlich wie weggeworfen gefühlt, denn diese Grundsicherheit, die man immer hatte, die fiel plötzlich weg und plötzlich war man für sich selbst zuständig und die ganzen Versprechungen, die man bis dahin noch gekriegt hatte oder diese Illusion, wir kämpfen für eine bessere Welt, ja das war ja alles nicht mehr existent.
Den DDR-Kindern aus Namibia war ihre Heimat fremd geworden. Aber auch das Land, das ihnen in den vielen Jahren ein Zuhause geworden war, gab es nicht mehr. Die SWAPO verlor das Interesse an ihrer vermeintlichen Führungselite. So blieben viele der DDR-Kinder nach ihrer Rückkehr in die zerstörte Heimat orientierungslos. Einige konnten ihre Sprachkenntnisse und Ausbildung nutzen; andere kehrten nach Deutschland zurück.
Da man aber von den Eltern in Namibia nichts erfahren hat, wusste man auch nicht, was erwartet einen auf der anderen Seite. Dass du jetzt so ein Gefühl hast von Wiedererkennen oder Zugehörigkeit, das ist ja das Wesentliche, dass das nicht kommt, das ist, glaub ich, das Verstörende.
Selma Kamati musste sich in einem für sie fremden Land zurechtfinden. Nachdem sie ihre Eltern wiedergerfunde hatte, stellte sie jedoch fest, dass auch sie ihr fremd geworden waren. Schließlich gelang es Selma, die Deutsche Schule in der namibischen Hauptstadt Windhoek zu besuchen. Ein Lehrerehepaar nahm sich der jungen Schülerin an und gab ihr die Möglichkeit nach Deutschland zurückzukehren. Selma Kamati lebt bis heute in Deutschland.