Zeitzeugenbericht Westdeutscher zu Besuch in der DDR im Katastrophenwinter
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07. Februar 2023, 17:45 Uhr
1978 ist Klaus Schröter gerade mal elf Jahre alt. Zusammen mit seinen Eltern erlebt der Junge aus dem Ruhrgebiet den Katastrophenwinter im Eichsfeld hautnah mit – seine Familie ist dort gerade bei Freunden zu Gast. Das Extremwetter, das das Leben in der DDR für einige Tage aus den Angeln hebt, erlebt der Heranwachsende als großes Abenteuer – ein Abenteuer, in dem sich ein Stück deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte widerspiegelt.
Die Neujahrsreise der Familie Schröter von 1978/79 hat eine lange Vorgeschichte. Klaus' Vater war während des Zweiten Weltkrieges als Kind, zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern, ins Eichsfeld evakuiert worden, um sie vor den Bombenangriffen aufs Ruhrgebiet zu schützen. Jahrzehnte später, nach dem Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik, nehmen die Schröters wieder Kontakt dorthin auf. Die alten Bekannten sind zwar weggezogen, über die örtliche Kirchgemeinde finden sie aber eine Familie aus Worbis, mit der sie eine Brieffreundschaft aufbauen. Das sei damals in Westdeutschland "in" gewesen, erinnert sich Schröter.
Wie viele Westdeutsche hatten meine Eltern Kontakt zu einer Familie auf dem Eichsfeld in Thüringen, an die wir Pakete mit Dingen schickten, die es in der DDR nur schwer oder gar nicht zu bekommen gab, z.B. Backzutaten und Obstkonserven in der Vorweihnachtszeit.
Mitte der Siebziger wird aus der Briefbekanntschaft eine echte. Fortan besuchen die Schröters ihre Freunde im Eichsfeld regelmäßig – auch über den Jahreswechsel 1978/79. Als sie am Abend des 27. Dezember in Worbis ankommen, ist es noch recht mild. Erst kurz vor dem Jahreswechsel kommt der große Wintereinbruch. Sein erstes "Opfer" wird der Hund der Familie, dessen Pfoten fast erfroren wären.
Der Schnee taute beim Laufen an den warmen Pfoten an, gefror aber sofort wieder beim Kontakt mit dem eisigen Boden und verklumpte zwischen den Zehen. Wir haben unseren Schlitten kurzerhand zum Hundetransporter umfunktioniert.
Im Nachbarort angekommen, stoppt Klaus' Vater einen Bus, der die Werktätigen eines VEB zur Arbeit bringen soll. Als Dankeschön für das eigentlich verbotene Mitnehmen drückt er dem Fahrer fünf D-Mark in die Hand. Worbis ist inzwischen in eine dichte Schneedecke gehüllt. Das Thermometer zeigt um die 20 Grad minus. Doch für den Elfjährigen aus dem Ruhrgebiet ist das keine Katastrophe, sondern ein einzigartiges Erlebnis.
Der kleine Bahnhof der Stadt war ein Backsteingebäude. Mit dem ganzen Schnee kam er mir vor, wie einer idyllischen Modellbahn-Landschaft entsprungen! Auf den offenen Güterwagen standen Volksarmisten und versuchten, die gefrorene Braunkohle mit Spitzhacken freizuschlagen und die Waggons zu entladen. Das hat den kommenden Energieversorgungskollaps aber nicht verhindern können.
Der kommt in der Silvesternacht. Kurz nach dem Abendessen, gegen 19 Uhr, fällt der Strom aus. Vorausschauend lässt die Gastgeberfamilie sofort die Badewanne und alle greifbaren Eimer und Kanister volllaufen, weil sie fürchtet, dass auch das Wasser bald nicht mehr fließt. Für ausreichend Licht sorgen zum Glück die vielen Christbaumkerzen, die aber stündlich ausgetauscht werden müssen – eine Aufgabe für Klaus und die anderen Kinder. "Da gab es, Gott sei Dank, genug davon, sonst hätten wir im Dunkeln sitzen müssen", erinnert sich Schröter nach Jahren. Irgendwo taucht sogar ein batteriebetriebenes Transistorradio auf. Einer fröhlichen Silvesterfeier steht damit trotz des draußen tobenden Wetterchaos nichts im Wege.
Die Menschen in Worbis hatten Glück. Es war eine kleine Stadt, damals ohne Plattenbauten, alles Altbau, ohne Zentralheizung. Das erwies sich nun als riesiger Vorteil, weil sie ihre Wohnungen selbst beheizen konnten und anders als Plattenbaubewohner nicht frieren mussten.
Wie dramatisch die Lage in der DDR insgesamt war, das hat der Teenager aus Westdeutschland aber nicht mitbekommen. Im Ruhrgebiet, aus dem er kommt, sind schneereiche Winter eine Rarität – er freut sich also über die weiße Pracht im Eichsfeld und empfindet sie nicht als Gefahr. Der Kurzurlaub in dem ländlich geprägten Eichsfeld ist für ihn als Großstadtkind eine angenehme Abwechslung. Selbst die beengten Wohnverhältnisse in einem Fachwerkhaus mit Hühnerstall und Kachelöfen sind für ihn etwas Aufregendes.
Für uns war es trotz oder gerade wegen aller notwendigen Improvisationskunst ein wild-romantischer Winter in einer tief verschneiten Kleinstadt im Schatten der deutsch-deutschen Grenze. Da war damals wirklich in jeder Hinsicht die Welt zu Ende!
Am Nachmittag des Neujahrstages schaufeln die Schröters ihr Auto vom Schnee wieder frei, ziehen Schneeketten auf und machen sich auf den Weg Richtung Grenze und weiter Ruhrgebiet. Dort herrschen normale Zustände, von einem Schneechaos ist dort nichts zu spüren. In der DDR dauert der Ausnahmezustand hingegen noch eine Weile an. In einem Brief von Mitte Januar berichten die Freunde aus der DDR, dass Strom und Wasser immer noch stundenweise ausfallen.
Der Artikel fasst ein Telefoninterview zusammen, das im Dezember 2018 von der MDR Zeitreise geführt wurde.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79 | 16. Februar 2023 | 20:15 Uhr