Zeitzeugenbericht DDR-Häftling dem Frost ausgeliefert
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07. Februar 2023, 17:45 Uhr
Falk Mrázek landet 1978 nach einem missglückten Fluchtversuch Richtung Westen im DDR-Gefängnis. Während des Katastrophenwinters 1978/79 muss er mit anderen Häftlingen bei Frost und Eis in Bitterfeld schuften. Es sind Tage voller Schmerz.
"Meinen extremsten Winter erlebte ich 1978/79 als politischer Häftling im Arbeitslager Bitterfeld, das werde ich nie vergessen, diese Aussichtslosigkeit", sagt Falk Mrázek, der 1960 in Radeberg geboren wurde und heute in Denver in den USA lebt. Am 30. Dezember 1978 kam Mrázek mit einem Gefangenentransport in der Strafvollzugsanstalt in Bitterfeld an.
Das war auch der Tag, der in der DDR als Beginn des Katastrophenwinters in die Geschichte eingehen sollte. Extreme Temperaturstürze von mehr als 30 Grad innerhalb weniger Stunden und orkanartige Böen bis zu Windstärke zehn lassen weite Teile Nordeuropas unter meterhohen Schneeverwehungen erstarren. Die Auswirkungen sind verheerend, Todesopfer sind zu beklagen, überall herrscht Chaos, das Leben wird für einige Tage komplett lahmgelegt: Stromnetze sind kollabiert, Straßen gesperrt, Schienen unbefahrbar. Die DDR im Ausnahmezustand.
Ich will hier raus!
Im Ausnahmezustand befand sich auch der 18-jährige Häftling Mrázek. Er war vom Kreisgericht Bischofswerda wegen eines Fluchtversuches zu einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden. Im September 1978 war er in Berlin auf das Brandenburger Tor zugelaufen, er wollte seine Entschlossenheit beweisen, die DDR zu verlassen.
Ich habe nur ein Leben und will die Welt sehen dürfen.
Seine Eltern hatten 1975 einen Ausreiseantrag gestellt, der bis dato noch nicht bewilligt war. Mrázek schwor sich, wenn sich bis zu seinem 18. Geburtstag nichts an diesem Zustand ändern würde, einen Fluchtversuch zu starten. Dazu kam es dann im September 1978. Ihm war klar, dass dieser Tag sein Leben für immer verändern würde.
Doch die Flucht misslang. Nach U-Haft und Verurteilung wurde er zunächst in verschiedenen Gefängnissen der DDR untergebracht, um schließlich am vorletzten Tag des Jahres 1978 im Strafvollzug in Bitterfeld anzukommen.
Als ich am späten Nachmittag mit einem Gefangenentransport eintraf, wurde ich in eine Art offene Garage geführt. Dort musste ich meine Zivilkleidung vollständig ausziehen. Nackt ließen mich die Aufseher in der Kälte stehen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich endlich meine Lageruniform bekam. Mir kam es ewig vor, hinzu kam die Scham, denn an dem offenen Gebäude liefen andere Häftlinge und Personal vorbei und schauten mich an, wie ich frierend und schlotternd warten musste. Da fühlte ich mich ganz klein.
Schuften bei eisigen Temperaturen
Gleich am nächsten Tag begann für Falk Mrázek und die Mithäftlinge harte körperliche Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen. Der starke Frost verstärkte die Strapazen der Häftlinge im DDR-Strafvollzug. In dem Bitterfelder Arbeitslager, wie nicht nur Mrazek es immer noch nennt, mussten die Häftlinge Anfang Januar 1979 auf dem Gelände der Haftanstalt ihren "Wintereinsatz" leisten – die Unmengen an Schnee, die in diesen Tagen fielen, räumen. Weit schlimmer aber war der Einsatz der Gefangenen auf dem sogenannten Schwellenplatz. Tag für Tag, je acht Stunden lang, mussten die Männer bei bitterem Frost Eisenbahnschwellen verrücken – sie von einer Ecke in die andere räumen, ohne dass ein Sinn erkennbar war.
Dazu hatten wir sogenannte Schwellenzangen, mit denen jeweils vier Strafgefangene eine Schwelle wegtragen mussten. Doch die Zangen rutschen immer wieder an dem steinhart gefrorenen Holz ab, fanden keinen Halt. Nach einer halben Stunde harter Arbeit bei minus 20 Grad unter eisblauem Himmel waren wir durchgefroren bis auf die Knochen, konnten die Finger kaum noch bewegen, die Füße spürte ich kaum noch, weil die Schuhe unzureichend oder gar nicht gefüttert waren.
Dem Frost ausgeliefert
Generell gab es für die Häftlinge keine passende Arbeitskleidung für diese harten Winter. Jede Stunde durften sich die Gefangenen für einige Minuten in einem mit einem Kanonenofen geheizten Bauwagen aufwärmen. Tee und Kaffee standen auch bereit, aber sobald sie wieder vor der Tür waren, ging das große Frieren weiter. Auch die Unterbringung in den sogenannten Verwahrhäusern, die schlecht isoliert waren, war menschenunwürdig. Mrazeks Verzweiflung wuchs ebenso wie die Ausweglosigkeit. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nur, dass er noch elf Monate Haftzeit vor sich hatte. Täglich fragte er sich: "Wie lang werde ich das unter diesen Witterungsbedingungen noch aushalten?" Man ließ die Gefangenen im Ungewissen.
Ich dachte, die Kälte und die körperlich anstrengende Arbeit mit den schweren Eisenbahnschwellen würde ich nicht über diese Zeit schaffen. Ich habe noch nie so gefroren. Ich hatte Angst. Die Kälte verstärkte dieses Gefühl. Ich fühlte mich allein und isoliert. Hinzu kam, dass politische Häftlinge beim regimetreuen Wachpersonal besonders verhasst waren. Die Kälte war ihr Verbündeter bei ihren Schikanen.
Das Kreischen der Bagger
In der Nähe des Strafvollzuges befanden sich auch Braunkohletagebaue. Mrázek wurde nicht zu Arbeitseinsätzen dorthin geschickt, trotzdem sind ihm die Kohlebagger in Erinnerung geblieben. Denn während seiner Arbeit auf dem Schwellenplatz hörte er extrem laute Geräusche aus der Ferne. Fast wie ein Kreischen – das kam von den Schaufeln und Eimerketten der Kohlebagger, die unermüdlich auf die hartgefrorene Braunkohle einhämmerten und versuchten, sie freizubekommen. Braunkohle war mit Abstand der wichtigste Energieträger in der DDR. Der hohe Wassergehalt führte im Katastrophenwinter dazu, dass sie nicht mehr in ausreichender Menge abgebaut werden konnte. Der Nachschub für die Kraftwerke fehlte. Die Folge: Der Strom fiel in weiten Teilen des Landes mehrere Tage lang aus.
In der Bitterfelder Strafvollzugsanstalt wurde der Strom jedoch nicht abgeschaltet. Während ganz Bitterfeld im Dunkeln lag, hatten die Häftlinge immer Strom. Eigene Stromaggregate sorgten für die "Rundumversorgung" – ansonsten wären auch die Elektrozäune, die die Anstalt umgaben, ausgefallen. Das konnte man sich nicht erlauben. Ein mehr oder weniger positiver Nebeneffekt war zudem, dass die Häftlinge Fernsehen schauen konnten. Über die "Aktuelle Kamera" erfuhren sie dann mehr über die Lage im Lande.
Insgesamt sollte der extreme Winterarbeitseinsatz der Häftlinge drei Wochen dauern. Wie durch ein Wunder kam Falk Mrázek mit einer Erkältung davon. Die Hoffnung auf die Zukunft in Freiheit – in der Bundesrepublik – haben ihn diese Strapazen der Haftzeit überstehen lassen. Und sein Humor. Den hat er sich auch in der Haft in jenem Kältewinter nicht nehmen lassen: Lachen als Lebenselixier in der kräftezehrenden und kaum zu ertragenden Zeit im Bitterfelder Arbeitslager.
Von der Aluminiumgießerei in die Freiheit
Am Ende des Winters wurde Falk Mrázek im Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) in der Aluminiumverarbeitung eingesetzt. Fortan hieß es für den jungen Mann im Drei-Schicht-System zu schuften - ebenfalls unter unmenschlichen und sehr gefährlichen Arbeitsbedingungen. So viele Arbeitsunfälle wie damals habe er nirgends mehr erlebt. In der Aluminiumgießerei arbeitete er an einer veralteten Pressmaschine. Mehrfach hat er sich bei dieser Arbeit seine Unterarme verbrannt bzw. durch umherfliegende heiße Aluminiumstücke Verletzungen erlitten. Er erinnert sich, dass er täglich Angst davor hatte, dass ihm bei der Arbeit etwas Schlimmeres passieren könnte.
Am 6. Juni 1979 schließlich wurde er ohne jegliche Informationen über den weiteren Verlauf in das Stasi-Gefängnis Kaßberg nach Karl-Marx-Stadt verlegt. Zumindest die Zwangsarbeit im CKB hatte ein Ende. Die Schikanen gingen weiter. Allerdings hatte er Glück im Unglück: Ende Juni 1979, knapp fünf Monate vor der eigentlichen Haftentlassung, wurde er zusammen mit anderen Häftlingen mit einem Bus nach Westdeutschland gefahren. Die Bundesrepublik hatte ihn freigekauft. Sein zweites Leben - in Freiheit - konnte beginnen.
Das Haftarbeitslager Bitterfeld
Strafgefangene als Erziehungsmaßnahme zur Arbeit einzusetzen, war in der DDR-Verfassung verankert. Hinzu kam der hohe Arbeitskräftemangel in der chemischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab 1952 gab es in Bitterfeld ein Haftarbeitslager – vorerst für Frauen. Dieses war der Strafvollzugsanstalt Coswig unterstellt und sollte dem VEB Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld (EKB) Strafgefangene zu Be- und Entladearbeiten zur Verfügung stellen. Nach Auflösung des Lagers 1955 und Verlegung der Gefangenen wurde erst 1961 auf Veranlassung der VVB Braunkohle erneut ein Haftarbeitslager in Bitterfeld errichtet. Die Häftlinge wurden in den Tagebauen des Braunkohlekombinates Bitterfeld eingesetzt. Die Kapazität des Haftarbeitslagers stieg über die Jahre an. Mitte der 1970er-Jahre hatte die Anstalt bis zu 800 Haftplätze. Ein großer Teil dieser Häftlinge wurden dann auch im Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) zur Zwangsarbeit eingesetzt. Oft fehlte es an Arbeitsschutzkleidung und man setzte sie in Bereichen ein, wo man es "normalen"Arbeitern nicht mehr zumutete - marode Maschinen, massive Umweltverschmutzung, häufige Havarien durch den unkontrollierten Austritt chemischer Substanzen. Die besonders belasteten Betriebe wie in Bitterfeld konnten trotz hoher Lohnzahlungen kaum neue Arbeitskräfte rekrutieren. Der Einsatz von Strafgefangenen in genau diesem Bereich resultierte also vor allem aus pragmatischen und ökonomischen Überlegungen heraus. Bis Dezember 1989 waren Strafgefangene im CKB beschäftigt, nach der Wiedervereinigung wurde das Gefängnis in Bitterfeld geschlossen und fast vollständig abgerissen.
Literaturhinweis: Justus Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR. Berlin, Christoph Links Verlag 2012.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79 | 16. Februar 2023 | 20:15 Uhr