Katastrophenwinter Fernwärme-Havarie 1979: Rettungsaktion für frierende Babys in Jena
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07. Februar 2023, 17:45 Uhr
Im Kältewinter 1978/79 waren in Jena viele Babys wegen einer Fernwärmhavarie in Lebensgefahr. Ein Pfleger von der Notaufnahme startete eine Hilfsaktion: Die Kinder wurden per Bus zum Aufwärmen ins Krankenhaus gebracht.
Am Vormittag des 31.12.1978 deutet in Jena noch nichts auf die nahende Wetterkatastrophe hin. Es ist ein ganz normaler Wintertag, für diese Jahreszeit sogar recht mild. Erst am Nachmittag setzt starker Schneefall ein, erinnert sich Frank von Olszewski, damals leitender Pfleger der Schnellen Medizinischen Hilfe, die erst zwei Jahre zuvor in der Stadt gegründet worden war.
Katastrophenwinter beginnt ohne Vorwarnung
Olszewskis Schwiegervater ist gerade in Jena zu Besuch und versucht anfangs, gegen die Schneemassen anzukämpfen. Per Hand versucht er die Auffahrt zum "Unfallberg", wie die Jenenser die Auffahrt für die Rettungswagen humorvoll nennen, freizuschaufeln. Doch irgendwann gibt er auf. Kurz nach Mitternacht fällt der Strom aus. Frank von Olszewski ist zu dieser Zeit unterwegs zum ersten Einsatz im neuen Jahr. Er kann sich noch heute an die gespenstische Szenerie erinnern.
Wir sind unter der Eisenbahnbrücke durchgefahren und plötzlich war es dunkel. Ich habe anfangs gar nicht verstanden, was los ist und wunderte mich nur: Hier ist es stockfinster!
Die ersten Patienten des Jahres, die Opfer einer Gaststätten-Schlägerei, muss Olszewski bei Kerzenschein verarzten. In der Klinik tritt unterdessen ein Krisenstab zusammen.
Busladungen voller frierender Babies
Das Krankenhaus ist wie eine Insel der Seligen in der dunklen, frierenden Stadt: Die Notstromaggregate liefern genügend Strom, die Heizung läuft. Der Krisenstab tagt anfangs alle zwei Stunden. Er setzt sich aus der Kreisärztin, dem Oberbürgermeister und der örtlichen Parteisekretärin zusammen und gibt die Losung aus: Niemand darf erfrieren!
Für die Umsetzung muss Olszewski nach seiner Rückkehr in die Klinik sorgen. Er übernimmt das Zepter, weil der Chefarzt der Schnellen Medizinischen Hilfe eingeschneit in seinem Bungalow in Goldlauter bei Suhl festsitzt, rund 80 Kilometer von Jena entfernt.
Das größte Sorgenkind ist die Neubausiedlung Jena-Lobeda. Weil es keinen Strom gibt, fallen die Umwälzpumpen der Fernheizung aus. Die schlecht gedämmten Betonbauten beginnen rasch auszukühlen. Schon bald klingelt das Telefon. Eltern mit kleinen Kindern rufen an, weil sie ihren Nachwuchs nicht baden, nicht wickeln und vor allem nicht füttern können. Olszewski startet eine Rettungsaktion für die Jenaer Babies.
Wir haben Sammeltransporte von den Neubaugebieten in unsere Klinik organisiert. Ein Polizeiwagen fuhr durch Lobeda und verkündete per Lautsprecher: Um soundso viel Uhr hält ein Bus an der Kaufhalle und holt die Kinder ab.
Auf unserer Station hatte man inzwischen jede Menge Babynahrung angerührt. Die Kleinen wurden dann gefüttert, gebadet, frisch gewickelt und wieder nach Hause gebracht. Mindestens acht Busse voller Babies finden in der Neujahrsnacht 1979 so den Weg von Lobeda in die Klinik und zurück, erinnert sich von Olszewski.
Fehlende Kleidung für Krankenschwestern
Doch das ist nicht das einzige Problem, das er im Katastrophenwinter 1978/1979 lösen muss. Die Krankenschwestern haben keine warme Kleidung, um zu den Rettungseinsätzen rauszufahren – die Thermometer zeigen in dieser Nacht zweistellige Minusgrade. Doch der Krisenstab sorgt für Abhilfe.
Für DDR-Verhältnisse lief das relativ unbürokratisch ab. Ich sagte, ich brauche unbedingt warme Kleidung und Stiefel. Innerhalb von ein oder zwei Stunden waren wir in einem Sportgeschäft und durften uns alles holen, was wir brauchten. Kostenlos! Und das war teure, westliche Importware.
Frost rettet Verletzten vor dem Verbluten
Zwei Rettungseinsätze bleiben Frank von Olszewski besonders in Erinnerung. Noch in der Neujahrsnacht werden die Helfer zu einem Gleisarbeitertrupp gerufen, den eine Rangierlok angefahren hat. Einer der Männer ist sehr stark verletzt, sein Oberschenkel wurde bei dem Unfall abgetrennt. Er wäre möglicherweise noch am Unfallort verblutet, doch der Frost rettet ihm das Leben. Das austretende Blut gefriert sofort und bildet eine Kruste, die die Blutung stillt. Der Mann überlebt.
Krankentransport mit sowjetischem Panzer
Wenig später wird von Olszewskis Mannschaft zu einer schwierigen Geburt in Bucha bei Jena gerufen. Der Ort liegt oberhalb der Stadt im "Gebirge", wie der Volksmund sagt. Mit ihrem schwach motorisierten Rettungswagen der Marke Barkas haben die Helfer selbst mit Schneeketten keine Chance hinaufzukommen. Die in Jena stationierten Sowjeteinheiten könnten aber helfen, denkt sich Frank von Olszewski.
Ich habe am Kasernentor etwas Lärm gemacht und die Lage geschildert, wir konnten ja alle etwas russisch. Die haben dann einen Panzer genommen, eine Stahlplatte ans Rohr geschweißt und mit diesem Panzer fuhren wir den Berg hoch und haben die Schwangere geholt.
Unzählige Knochenbrüche im Katastrophenwinter
Etwa drei bis vier Tage hält der Frost die Stadt im Griff. Die Zahl von Knochenbrüchen steigt rasant an, denn Eisglätte ergibt in Verbindung mit der steilen Hanglage vieler Jenaer Stadtteile eine gefährliche Mischung.
Zum Glück hat von Olszewski beizeiten ausreichend Verbandmaterial und Medikamente gehamstert – "Ich bin eben ein gelernter DDR-Bürger", lacht er 40 Jahre später. Sein Chefarzt wird übrigens erst nach zwei Tagen aus seinem eingeschneiten Bungalow befreit.
Der Artikel fasst ein Telefoninterview zusammen, das im Dezember 2018 von der MDR Zeitreise geführt wurde.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79 | 16. Februar 2023 | 20:15 Uhr