Niedrige Säuglingssterblichkeit in der DDR Im Dienst der Kinder: Das Vermächtnis der Ingeborg Rapoport
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31. August 2022, 09:40 Uhr
Ein nur wenige Stunden altes Baby atmet immer flacher, die Ärztin Ingeborg Rapoport kämpft um sein Leben. Welchen großen Anteil sie bei der Verbesserung der Versorgung von Neugeborenen in der DDR haben wird, lässt sich in der dritten Staffel der "Charité" nur ahnen. An die besondere Leistung und das Charisma der Kollegin erinnert sich Ingeborg Röse aus Magdeburg, die in einem von ihr initiierten Forschungsprojekt ebenfalls daran beteiligt war, die Säuglingssterblichkeit in der DDR zu senken.
An ihre erste Begegnung mit der damals schon renommierten Charité-Kinderärztin erinnert sich Ingeborg Röse noch ganz genau. Es war 1968, sie war schwanger mit ihrem zweiten Kind und auf einer Tagung zur Neonatologie – der Neugeborenenmedizin. "Ingeborg Rapoport kümmerte sich auch um mein persönliches Wohl, nicht nur um das wissenschaftliche", erzählt Röse.
Die Pathologin ist noch heute beeindruckt von Ingeborg Rapoports herzlicher Ausstrahlung und ihrer fachlichen Weitsicht. "Sie war sehr an den anderen Disziplinen interessiert, der Geburtshilfe und der Biochemie, das interdisziplinäre Arbeiten war ihr sehr wichtig." Das war die Basis ihres medizinischen Wirkens. Ingeborg Röse leitete damals bereits die Abteilung Kinderpathologie am Institut für Pathologie an der Medizinischen Akademie Magdeburg (MAM), heute das Universitätsklinikum Magdeburg. Beim Nachdenken über die hervorragende Kollegin fällt Ingeborg Röse ein Kinderbuch in die Hände. Rapoport hat es kurz vor ihrem Tod 2017 veröffentlicht. Es heißt "Eselsohren - Ein Kinderbuch weint". Es ist rührend, wie die 104-Jährige darin an Kinder appelliert, sorgsam mit Büchern umzugehen. Auch das sei ein Teil dieser besonderen Frau, so Röse.
Rapoports Ansatz: Fachübergreifendes Arbeiten
Die Kinderärztin Rapoport initiierte 1969 das interdisziplinäre Forschungsprojekt "Neonatologie". Die Zahl der Totgeburten und die Säuglingssterblichkeit waren in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR bereits signifikant gesunken. Allein die verbesserten Lebensbedingungen und die geregelte medizinische Versorgung hatten die Zahl der im ersten Lebensjahr verstorbenen Kinder um etwa zwei Drittel sinken lassen: Während 1950 noch 72 von 1.000 Lebendgeborenen starben, waren es fünfzehn Jahre später (1965) nur noch 25 von 1.000.
Nun ging es darum, genauer zu identifizieren, welche Anomalien, Krankheiten und Bedingungen "Schwangerschaft und frühkindliche Entwicklung" beeinflussen. Die Grundlage dafür bildete der von Rapoport angeregte Austausch aller beteiligten Fachgebiete: Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinderheilkunde und Kinderchirugie, Pathologie, Mikrobiologie und Humangenetik. Ingeborg Röse arbeitete als Pathologin mit. Professor Rapoport ernannte sie 1969 persönlich zur Leiterin der Arbeitsgruppe "Perinatologie" an der Medizinischen Akademie Magdeburg. In dieser Abteilung wird die medizinische Versorgung von Frau und Fötus vor und nach der Geburt gewährleistet. Sie forschte nun gemeinsam mit dem Leiter der Pathologie, Prof. Dr. Hasso Eßbach, intensiv an Eihaut, Plazenta und Nabelschnur. Die Arbeitsgruppe war interdisziplinär, wie das gesamte Projekt und der Ansatz von Ingeborg Rapoport.
DDR: Senkung von Säuglingssterblichkeit in Verfassung
Die DDR wandte viel Energie auf, um die Säuglingssterblichkeit zu verringern. "Das Kind hatte zu DDR-Zeiten eine größere Lobby", so Röse. Der Gesundheitsschutz für Mutter und Kind war ein grundlegendes Anliegen in der DDR und in der Verfassung fest geschrieben (Artikel 35 und 38). "In jedem Bezirk und Kreis gab es Kommissionen zur Senkung der Säuglingssterblichkeit. Dort wurden die Ergebnisse ausgewertet, überlegt, was können wir besser machen und Weiterbildungen organisiert", erzählt Röse über die Wirkung der Arbeit, an der sie beteiligt war. Alle verstorbenen Kinder bis zum 16. Lebensjahr wurden obduziert, um Erkenntnisse zu gewinnen. Mit der Wiedervereinigung wurde die Obduktionspflicht abgeschafft, in der BRD gab es sie nicht. Ingeborg Röse weiß noch heute, dass sie vor 1989 pro Jahr 500 bis 800 Kinder - vorwiegend Säuglinge - obduziert hat.
Ingeborg Rapoport ging 1972, wie für Frauen in der DDR üblich, mit 60 Jahren in Rente. "Sie war traurig darüber, hätte gern weiter gearbeitet. Ich habe sie aber immer wieder in den Sitzungen der Fachgruppen getroffen, wo sie mitdiskutiert hat. Ich habe in ihr ein Vorbild gesehen", so Ingeborg Röse, inzwischen selbst 85 Jahre alt. Sie sei eine engagierte Wissenschaftlerin, hervorragende Ärztin und einfühlsame Kollegin gewesen. "Sie hat immer den ganzen Menschen gesehen, das hat sie ausgezeichnet. Sie hatte einen sehr angenehmen Umgang mit den Müttern und den jungen Ärzten. Sie war wie die Mutter aller ihrer Schüler und die der Neonatologie."
Dieses Fachgebiet der medizinischen Versorgung der Neugeborenen hat Rapaport an der Charité aufgebaut und damit maßgeblich zur Senkung der Säuglingssterblichkeit beigetragen. Durch ihre verbindende Persönlichkeit konnte sie entscheidende Erkenntnisse zusammen tragen und nutzbar machen. Bis zu ihrer Emeritierung 1973 hatte sie den einzigen Lehrstuhl für Neonatologie in Europa inne und war eine Pionierin auf dem Gebiet der Versorgung von Säuglingen.
Rapoport: Nachträgliche Promotion mit 102 Jahren
Prof. Dr. Ingeborg Röse blieb bis zu ihrer Emeritierung Stellvertreterin des Direktors des Instituts für Pathologie am Universitätsklinikum Magdeburg: "Ich hatte ein umfangreiches Betätigungsfeld in der gesamten Pathologie, es war noch einmal eine sehr interessante Zeit." Mit Hochachtung hat Röse die späte Promotion der hoch betagten Ärztin verfolgt. 1937 war Ingeborg Rapoport, damals hieß sie noch Syllm, die mündliche Prüfung zu ihrer Doktorarbeit aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verwehrt worden. Es ging um die Diphtherie und sie beantwortete alle Fragen der Prüfer auch 78 Jahre später, mit 102, noch zu deren vollster Zufriedenheit. Zwei Jahre später, im Alter von 104 Jahren, starb sie in Berlin.