Das System austricksen Proteste: Wie DDR-Bürger ihre Altstädte retteten
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11. Dezember 2022, 12:45 Uhr
Die Innenstädte der DDR waren 1989 geprägt von einem einheitlichen Grau, von leerstehenden, maroden Häusern, teils ganzen Straßenzeilen und Quartieren. Die Dächer löchrig, die Fenster zugig, Kohleheizung und Außen-Klo waren prägend. Die Altstädte waren das Symbol für ein kollabierendes System. Republikweit drohte der Abriss von zehntausenden Wohnungen in historischer Bausubstanz – weil sie nicht mehr zu erhalten waren, von der DDR nie saniert wurden und Platz machen sollten für die moderne sozialistische Stadt. Doch es gab auch Protest aus der Bürgerschaft. Diesem Engagement ist es zu verdanken, dass nicht nur einzelne Häuser sondern ganze Altstädte mit ihrem historischen Flair das Ende der DDR überlebten.
Schon weit vor dem Herbst 1989 engagierten sich Bewohnerinnen und Bewohner für ihre Umgebung, machten sich stark für den Erhalt historischer Bausubstanz und für städtische Lebensqualität – für das Flair ihrer Stadt, für die Geschichte ihrer Stadt.
Protest in der DDR nur eingeschränkt möglich
Allerdings: "Die Proteste zum Erhalt der Altstädte der DDR konnten nur in der Form stattfinden, wie das repressive System das zugelassen hat", sagt Historikern Julia Wigger. Sie forscht im Rahmen des Stadtwendeprojekts zur Protestkultur in der ehemaligen DDR. Im Rahmen des vom Bundesforschungsminsterium geförderten Projekts wurden zwischen 2019 und 2022 erstmals die Vorgeschichte und Wirkung der Rettung der historischen Quartiere ostdeutscher Städte und Gemeinden untersucht. Welche Rolle spielten dabei Bürgergruppen, Stadtplaner und Architekten?
Wie trickst man das System aus? Mit Eingaben!
Offener Protest ist in der DDR damals kaum möglich, die Angst vor Repressionen zu groß, sagt Historikerin Julia Wigger. "Wir können uns das nicht wie Proteste in der Bundesrepublik vorstellen, wo man mal kurz eine Demonstration anmeldet, Flugblätter verteilt und Unterschriften sammelt." Der gängigste und vom Regime geduldete Weg in der DDR war: die Eingabe.
Eingaben waren vom Staat gedacht für Einzelpersonen, für individuelle Beschwerden und Kritik – direkt gerichtet an die Regierung oder an die Stadt- und Gemeindeverwaltung. Einige besonders engagierte Bürger nutzten diese Möglichkeit aber, um eine Art Massenprotest zu organisieren, mit Anregungen und regelrechten Vorlagen dafür, wie Eingaben aussehen könnten.
Potsdamer Barockviertel, Berliner Gasometer
So haben u.a. in Potsdam Bürger aus dem Umfeld der Kirche gegen den Abriss des Wohnviertels der sogenannten 2. Barocken Stadterweiterung mobil gemacht und Informationsschreiben verteilt. Darin riefen sie dazu auf, sich mit Eingaben an die Behörden bis hin zum Ministerrat zu wenden.
"Zwar waren Eingaben vom Staat dafür vorgesehen, so etwas wie Unzufriedenheit zu vereinzeln. Dadurch, dass man einen Brief schreibt, ihn zuklebt und abschickt, teilt man ja seine Unzufriedenheit nicht mit anderen Leuten," sagt Wigger. Doch "wenn wir zum Beispiel an die Proteste denken, die gegen den Abriss der Gasometer in Ost-Berlin stattgefunden haben. 1984 wurden auf einmal fast 200 Eingaben geschrieben. Es wurden Flugblätter verteilt, Sticker angefertigt, aber auch so kleine Postkarten gemacht, auf den darauf hingewiesen wurde, dass das Gasometer ein wichtiger visueller Bezugs Punkt im Stadtraum war." Genützt hat es im Falle der Gasometer in Berlin-Prenzlauer Berg nichts – sie fielen und machten dem Thälmann-Park, einem neuen Plattenbaugebiet, Platz.
Erfurt: Eingaben gegen den Abriss des Andeasviertels
Eingaben zu schreiben – "das war in der DDR das einzige, was man machen konnte", sagt auch Matthias Sengewald, damals Gemeindepädagoge der evangelischen Kirche in Erfurt. "Gruppenbildung war ja immer gefährlich. Deswegen haben wir einzeln Eingaben geschrieben und wurden dann einzeln zu Gesprächen eingeladen in die Stadtverwaltung, wo uns erklärt wurde, ich karikiere das jetzt vielleicht ein bisschen: Also lieber Bürger, wir machen nur das Beste für alle, und wir erklären Ihnen das jetzt."
In Erfurt erfuhren die Schreiber der Eingaben auf diese Weise, warum es nötig sei, das Andreas-Viertel abzureißen. Ein Generalverkehrsplan sah nämlich vor, dass eine vierspurige moderne Straße die Altstadt Erfurts mit dem bereits vierspurig angelegten Juri-Gagarin-Ring verbinden soll. So sollten entlang des Stadtrings, der auch als Aufmarschstraße für die Maidemonstrationen u.Ä. diente, und entlang der geplanten neuen Straße Plattenbauten entstehen. Und mit den Plattenbauten sollte auch das Problem des dauerhaften Wohnungsmangels behoben werden.
Ein weiteres Mittel des Protests: Informationen sammeln, um sie zu verbreiten und so Transparenz zu schaffen. Aus derart gesammelten Informationen gestaltete die Arbeitsgruppe Stadt- und Wohnumwelt 1987 eine Ausstellung in der Erfurter Michaeliskirche. 12.000 Menschen besuchten sie, stellten Fragen, schrieben weitere Eingaben. Andere packten privat an, reparierten Dächer und Fenster und schützten Häuser so notdürftig vor weiterem Verfall. Auf diese Weise konnten die Proteste den Abriss des Andreasviertels verzögern und am Ende sogar ganz verhindern.
Weimar und Dessau: Altstädte sind Identität
Vom allgemeinen Bild der zerfallenden Altstädte gibt es in der DDR einige Ausnahmen, wie Weimar. Als Klassikerstadt war Weimar seit jeher touristisches Aushängeschild der Republik. In anderen Städten blieben die Innenstädte bis weit in die 1970er Jahre zugunsten der Neubaugebiete am Stadtrand und auf der "grünen Wiese" Stiefkinder: Es wurde kaum saniert, Bauarbeiter und Handwerker wurden von Reparaturen abgezogen zugunsten der Neubauten.
Stadtplaner Thomas Fischer aus Dessau: "Es wurde aber sehr unterschiedlich darauf reagiert. Es gab Städte, in denen sich relativ früh Widerstand regte, wo die Leute gesagt haben: Also was macht ihr hier eigentlich mit unserer Stadt? Das ist Identität. Das ist für uns wichtig!"
In allen untersuchten Städten quer durch die ehemalige DDR zeigte sich dasselbe Bild des Zerfalls. Doch es wurde überall verschieden damit umgegangen. In Dessau beispielsweise gab es keinen Protest, als Ende der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre noch die Muldvorstadt abgerissen wurde und Platz machte für moderne Plattenbauten.
Dabei war die Stadt im Krieg zu fast 85 Prozent zerstört und historische Bausubstanz rar. Eine völlig neue Stadtstruktur entstand so in Dessau, nur noch historische Inseln erinnerten an vergangene Baukunst.
Tradition von Abriss und Protest
Jahre nach der Wende sollen selbst diese wenigen historischen Inseln abgerissen werden. So steht 1996 das Schwabe-Haus in Dessau, ein fast 200 Jahre altes Fachwerkhaus, auf der Abrissliste. Ein Investor will bauen, die Sanierung wäre zu teuer. Der Stadtrat will dem Abriss zustimmen. "Bestimmte Traditionslinien, die haben sich sogar über die Wende gehalten. Im Stadtrat gab es dann eben keine Reaktion darauf, als dann ein Investor gesagt hat, wir reißen jetzt hier in der sogenannten Neustadt noch weitere Häuser ab, die den Krieg überlebt haben", so Fischer.
Doch es kommt anders – eine Bürgerinitiative gründet sich, reicht ein Konzept ein, übernimmt das Schwabehaus und saniert es. Frei nach dem Motto: Es lohnt sich, zu kämpfen…
Protest in der DDR und heute
An bestimmten Orten hat sich eine Protestkultur erhalten oder noch verstärkt, an anderen Orten hat sie sich später erst herausgebildet. "Und in einem demokratischen Umfeld kann sie sich noch ganz anders entfalten", sagt Stadtplaner Fischer. "Denn Sie konnten jetzt zum Beispiel die Presse mit einbeziehen und Sie hatten Möglichkeiten, wirklich ungestört ihre Meinung kundzutun." Die Proteste von Mitte der 1980er Jahre bis 1989/90 hätten deshalb eine Vorbildfunktion. "Wenn man es damals unter diesen schwierigen Bedingungen gemacht hat und erfolgreich war in weiten Teilen, dann müsste es uns doch heute eigentlich viel leichter gelingen", findet Fischer.
Über das Projekt Stadtwende
Nachdem die historischen Innenstädte und ihre Bausubstanz in der DDR jahrzehntelang vernachlässigt worden waren, kam es in den Tagen nach der Mauereröffnung 1989 zu einem radikalen Kurswechsel der Städtebaupolitik in der DDR. Das Forschungsprojekt Stadtwende untersucht die Vorgeschichte und Wirkung dieser Rettung der historischen Quartiere ostdeutscher Städte und Gemeinden und beschäftigt sich mit der Rolle der Bürgergruppen. Damit verknüpft ist die These, dass die in einer Reihe von DDR-Städten schon vor der Wende tätigen Bürgerinitiativen gegen Abriss und für Stadterhaltung wesentliche Impulse gaben für die Entfaltung einer breiten Bürgerbewegungen und damit erheblich dazu betrugen, die politisch-gesellschaftlichen Wende von 1989 herbeizuführen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Forschungsprogramms, Wissenslücken über die DDR schließen gefördert.
Ausstellungsorte Wanderausstellung Stadtwende
- 18.10.2022 - 20.11.2022 – Schleswig-Holstein-Haus in Schwerin
- 09.12.2022 - 12.02.2023 – Potsdam-Museum in Potsdam
- 17.02.2023 - 30.03.2023 – Kunsthalle Dessau in Dessau-Roßlau
- 02.06.2023 - 16.07.2023 – Bauhausmuseum in Weimar
- 20.07.2023 - 24.08.2023 – Pankow-Museum in Berlin
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | Stadtwende - wie Bürger für ihre Altstädte kämpften | 11. Dezember 2022 | 22:00 Uhr