Reporter 1989 "Eine sich selbst beschränkende Revolution"
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Interview mit Dr. Marek Prawda, dem Botschafter der Republik Polen in Deutschland
09. November 2009, 11:12 Uhr
Was war die Solidarność, welche Bedeutung hat sie damals und heute für Polen? Die Berliner Reporterin Mimoza Troni hat den polnischen Botschafter Marek Prawda gefragt, der selbst Solidarność-Mitglied gewesen ist. Im Gespräch erinnert er sich an Ängste, die Kraft und den Erfolg der Gewerkschaft.
Herr Botschafter, wie hat die Solidarność gewirkt?
Marek Prawda: Wir lebten in einem Kommunismus, in dem das politische Leben eigentlich eine Fassade war. Die Entstehung der freien Gewerkschaft Solidarność im August 1980 war ein Signal, dass nun eine erste unabhängige Struktur entstand, die eine Gewerkschaft war, aber mehr als eine Gewerkschaft bedeutete. Das war die demokratische, die echte Repräsentanz des Volkes.
Diese Bewegung hat Prozesse eingeleitet, die für das politische Leben wichtig waren: Freiheit des Wortes, Schritte in Richtung einer freien Marktwirtschaft und natürlich Rechte der Arbeiter usw. Also haben sich gewerkschaftliche Ziele mit politischen Forderungen vermischt, die vorsichtig, schrittweise dazukamen. Deshalb sagen wir, dass Solidarność eine sich selbst beschränkende Revolution war: Man wusste, dass man sehr vorsichtig handeln muss.
Die Solidarność hatte viele PZPR-Politiker als Mitglieder. Wie war das möglich?
Die Solidarność als eine sich selbst beschränkende Revolution gab vielen Menschen die Möglichkeit, sich der Bewegung anzuschließen ohne sofort in den Verdacht zu kommen, dass man rebellieren will. Das war sehr geschickt als Non-Violence-Movement aufgefasst.
In der Solidarność gab es tatsächlich eine Million Partei-Mitglieder. Die meisten von ihnen wollten mit der Partei nichts zu tun haben, benötigten ihre Mitgliedschaft nur aus beruflichen Gründen. Das war so im Kommunismus.
Wie sahen Sie deren Mitgliedschaft an?
Ich habe damals in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet, wo die Zugehörigkeit zur Solidarność ziemlich selbstverständlich war. Im Allgemeinen habe ich das so wie die meisten aufgefasst: als ein gutes Zeichen.
Sie waren auch Mitglied der Solidarność. Wie kam es dazu?
Die Regierung hatte Angst vor den Arbeitern, wenn sie in Großbetrieben streikten. Das beeindruckte die Macht. Die Wissenschaftler oder Journalisten - die waren Unruhestifter, Störenfriede.
Damals habe ich als Dolmetscher viel mit westlichen Journalisten, vor allem mit einer Journalistin vom "Stern", gearbeitet. Wir haben 1982 und 1983 viele Interviews gemacht - die meisten unter konspirativen Bedingungen, beispielsweise mit Anna Walentynowicz, der legendären Kranführerin in der Danziger Werft, nach ihrer Entlassung aus dem Internierungslager. Wir waren sehr froh, dass diese Stimmen auch in der westlichen Presse veröffentlich wurden.
Sie sind also Mitglied geworden, um etwas zu verändern?
Ja. Diese Journalistin hat sehr großzügige Hilfen für die Arbeiter im Traktorenwerk bei Warschau organisiert. Da war die Hoffnung, dass eine Protestbewegung doch etwas bewirken kann, obwohl wir in den 80er Jahren - nach der Zerschlagung der Solidarność - sehr desillusioniert waren.
Wie hat die Solidarność im Untergrund gewirkt?
Viele, über 5.000 Menschen, wurden interniert. Das hat natürlich die Arbeit der Solidarność sehr erschwert. Deshalb überwog die Stimmung der Hilflosigkeit. Polen ist für viele Menschen zu einer Art "Unwirklichkeit" geworden. Wir haben eine große Emigration damals gehabt. Etwa 1 Million Menschen haben in den 80er Jahren das Land verlassen. Man emigriert nicht nur, weil es dem Lande nicht gut geht, sondern vor allem, wenn man nicht mehr daran glaubt, dass sich dort etwas zum Besseren ändern kann.
Dann kam Gorbatschow, 1985, und mit ihm eine große Hoffnung, dass doch alles lockerer wird. Die Lage der polnischen Kommunisten war sehr prekär, die Wirtschaft konnte nicht wirklich repariert werden, sodass es die Möglichkeit gab, die begrenzte Lockerung politisch zu nutzen. Seit 1987 hatten wir plötzlich eine Fülle von politischen Clubs, die eine quasi unabhängige, fast offizielle Tätigkeit aufnahmen. Das war neu im Kommunismus. Im Jahre 1988 kam es zu zwei großen Streikwellen, die den Kommunisten Angst machten, sodass sie zu Zugeständnissen bereit waren. Damit war der Weg geebnet zu den Runden-Tisch-Gesprächen. Ergebnis der Verhandlungen waren die ersten halbwegs freien Wahlen, und das war die Leistung der Solidarność.
Die Wahlen im Juni 1989 wurden durch Solidarność gewonnen - im Rahmen des ausgehandelten Spielraums - und dann begann sich die erste in der Region unabhängige Regierung zu bilden.
Waren Sie auch im Untergrund aktiv?
Nein. Ich habe mich erst 1989 im Bürgerkomitee der Solidarność engagiert. In der DDR wurden die Proteste immer aktiver, die fluchtwilligen Menschen sind vor allem nach Ungarn gefahren, weil Ungarn eine Grenze zu Österreich hatte. Aber auch zu uns kamen etwa 6 Tsd. DDR-Bürger im August 1989. Polen war das Land mit einer gerade im Entstehen begriffenen unabhängigen Regierung. So kamen diese Menschen und gingen in die Botschaft der Bundesrepublik. Die platzte aus allen Nähten.
Deshalb haben wir im Bürgerkomitee reagiert: Wir waren ein freies Land und sehr stolz darauf, dass wir nun diese humanitäre Pflicht erfüllen konnten. Die Flüchtlinge wurden in Orte bei Warschau einquartiert. Meine Rolle war es, die Busse zu organisieren und die Leute dahin zu bringen.
Aber ich kann mich erinnern, wie prekär die Lage war: In Moskau gab es zwar eine etwas liberalere Führung, aber wir waren umgeben von Kommunisten-Hardliner in der DDR und in der Tschechoslowakei. Manche der Staatsmänner in der Region wollten uns "brüderliche Hilfe" leisten, um den Kommunismus zu retten, wie es damals hieß. Wir hatten große Angst. Nur in Ungarn regierten die Reformkommunisten. Und dieses Land war auch im Wandel, wie Polen. Aber nicht von unten, dort gab es Politiker, die sich entschlossen hatten, das Land zu liberalisieren.
Die Lage war gespannt: "Die Polen werden das zu schnell machen und halb Europa in die Luft sprengen", lauteten die Befürchtungen. Das könnte das Ende für die ganze Bewegung sein. Deshalb war dieser Gedanke einer sich selbstbeschränkenden Revolution sehr wichtig. Also, keinen falschen Schritt machen, weil wir uns damit die Chance blockieren und auch die Hoffnung für unsere Nachbarn verspielen.
Als die Flüchtlinge aus der DDR kamen, wurden wir jeden Tag in der DDR-Presse als amerikanische Agenten diffamiert, die die armen Leute aus der DDR zum Bleiben überredeten. Immerhin hatten wir Verträge mit der DDR, nach denen wir "illegale Flüchtlinge" hätten zurückschicken müssen.
Wurde das immer eingehalten?
Überhaupt nicht. Aber das war das Risiko. Wir hatten Angst, dass es zu einer militärischen Aktion kommt. Wäre es auch, wenn die Russen nicht schon weiter gewesen wären. Das hat uns gerettet, aber es war eine reale Angst, dass diese Bewegung so endet wie die vorhergehenden: Mit einem Blutbad und der Zerschlagung der Revolution.
Ende September konnten die DDR-Flüchtlinge mit dem Zug in die Bundesrepublik fahren und dann fiel die Mauer im November. So begann eine ganz neue Phase in unserem Leben. Es ist wichtig, dass wir das als eine verbindende Erfahrung in der Region betrachten. Als unseren gemeinsamen Beitrag zum Zusammenwachsen von beiden Teilen des Kontinents.
Drei Jahre nach der Gründung von Solidarność wird Wałęsa der Friedensnobelpreis verliehen. Wie wird das von der Bevölkerung, den Mitgliedern und den Regierenden aufgenommen?
Die Regierung hat sich nicht gefreut. Sie hat versucht zu verhindern, dass Wałęsa den Nobelpreis bekommt. Heute wissen wir das genau. Die Geheimdienste haben Dokumente gefälscht um zu demonstrieren, dass Wałęsa den Preis nicht verdient hat, aber das wurde nicht ernst genommen. Die Bevölkerung hat sich sehr gefreut. Es war eine Bestätigung der Richtigkeit dieser Bemühungen und ein Zeichen, dass Solidarność lebt und dass es der Welt nicht gleichgültig ist, was in Polen und mit Polen passiert.
Im April 1989 wird die Solidarność wieder legalisiert. Sie sind zu dieser Zeit an der Universität von Hamburg. Welche Reaktionen haben Sie in Deutschland erlebt?
Die Haltung war von der Überzeugung geprägt, dass man von unten nichts tun kann. Es bewegt sich nur etwas durch große Friedenskonzepte, die man natürlich mit der Sowjetunion aushandeln muss. Wir sollten uns beruhigen, hieß es. Ich habe dann gefragt: "Gut, wir beruhigen uns. Was ist unsere Perspektive?" Die Studenten antworteten: "Dass ihr irgendwann Freiheit bekommt." Da habe ich gefragt: "Wann?" - "In 5 Jahren vielleicht, aber in 10 Jahren bestimmt. Und wenn nicht, dann in 15 Jahren."
Aber wir hatten nur ein Leben und nicht so viel Zeit, und deshalb war die Perspektive, dass wir in 10 oder 15 Jahren die Freiheit von Gorbatschow "geschenkt bekommen", nicht attraktiv. Dieser Unterschied in den Sichtweisen verfolgte uns in den Jahren danach. Als Solidarność legalisiert wurde, gab es etwas mehr Respekt vor dieser Entwicklung. Man hat gesehen, dass die Legalisierung von Solidarność zu keinen Unruhen geführt hat.
Solidarność war eine Erfahrung, dass man sich außerhalb der kommunistischen Strukturen organisieren kann. Wir haben auf Verhandlungs- und nicht auf ein Revolutionsprinzip gesetzt. Und das hat die Kommunisten entwaffnet: In der Tradition des gewaltfreien Protests hat man den Runden Tisch vorgeschlagen. Dort gibt es keine Feinde, man muss sich arrangieren. Alle haben ihren Platz daran. Für uns sind der Runde Tisch und der friedliche Systemwechsel eine der wichtigsten Erfahrungen in der polnischen Geschichte.
Sind Sie immer noch Mitglied in der Gewerkschaft Solidarność?
Nein, ich bin in meiner Funktion als Botschafter in keiner Gewerkschaft. Die Solidarność hat ihren ursprünglichen Sinn wiederbekommen, d.h. es ist eine Gewerkschaft. Heute gibt es andere Möglichkeiten, sich politisch zu artikulieren und zu engagieren.
Wie erklären Sie sich den Wandel der Solidarność von der bedeutenden Kraft damals und der politischen Passivität heute?
Es ist immer so, dass nach einer Revolution der Alltag kommt, und im Alltag hat man andere Sorgen. In Polen wurden die ehemaligen Helden zu Opfern. Die Stärke der Solidarność waren im Grunde genommen die Großbetriebe. Und die Arbeiter dieser Großbetriebe haben als erste den Preis der Reform bezahlt: Arbeitslosigkeit. Es ist ein Paradox, weil die Solidarność eine liberale Reform möglich gemacht hat. Ich glaube, dass das bedauerlich ist, aber die Zukunft und der Wohlstand eines Staates können nicht nur durch eine Gewerkschaft gemacht werden. Die Welt hat sich verändert.
Haben Sie Verbindung zur heutigen Solidarnośćgewerkschaft?
Nein. Ich habe Verbindungen zu Menschen, die damals aktiv waren. Davon zerrt man auch heute und man versucht, in die neuen Zeiten hinüber zu retten, was Solidarność damals bedeutet hat, zum Beispiel dieses Gemeinschaftsgefühl, dieses Neugierig-Werden auf die anderen. So verbinde ich mit der Solidarność eine Öffnung und Freude an den Kontakten mit den Menschen in anderen Ländern.
Sehen Sie Polen als beispielhaft für diesen Weg, einen Staat durch Verhandlungen zu bilden?
Wir halten uns nicht für etwas Besonderes. Wir sind sehr realistisch in der Einschätzung dieses Weges, aber ich glaube, dass die Wirtschaftsreform und die Umgestaltung des Staates eine Erfolgsstory für Polen ist. Zum ersten Mal ist es gelungen, eine friedliche Revolution zu organisieren, die zu einem konstruktiven Ende geführt hat.
Jetzt sollte es aber nicht um eine Vorreiterrolle gehen. Wir haben die Gelegenheit, uns über die Gemeinsamkeit der Erfahrungen von 1989 zu unterhalten, weil wir im diesem Jahr gerade das erleben und feiern können.