Todesopfer an der Berliner Mauer Der Mauertote Peter Fechter: Vor den Augen der Öffentlichkeit verblutet
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Todestag am 17. August 1962
31. August 2016, 11:19 Uhr
Der junge Arbeitssuchende Werner Buchholz verlässt am 17. August 1962 gegen 14:00 Uhr das Westberliner Arbeitsamt, unmittelbar an der Berliner Mauer. Noch ahnt er nicht, dass er sich wenige Sekunden später in einer Szene wiederfindet, die als eine der unmenschlichsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Er wurde zum Augenzeugen des Überlebenskampfes des nur 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter im Todesstreifen zwischen Ost- und Westberlin.
Das Schicksal Berlins wurde durch die damals noch vier alliierten Mächte weit vor der Kapitulation im Mai 1945 besiegelt: Gemäß der Londoner Protokolle und weiterer Verträge sollte "Groß Berlin" nicht einfach der Sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen werden. Die Siegermächte einigten sich darauf, eine Gesamtverantwortung für die Stadt zu übernehmen. Der daraus folgende Sonderstatus bestimmte die wechselhafte Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Berlin wurde zum Seismographen für das Weltgeschehen der Nachkriegsjahre. Blockaden, Krisen und schließlich der Bau der Mauer führten dazu, dass die Stadt zur "Nahtstelle" des Kalten Krieges wurde.
Die Siegermächte, aber auch die Berliner und die Zugereisten wurden zu den Protagonisten der Kraftproben und Scharmützel, die sich beinahe täglich in der Stadt abspielten. Denn vor allem über das Nadelöhr Westberlin gab es Wege, die nach der Befestigung der innerdeutschen Grenze, noch vor dem Mauerbau, längst geschlossen waren. Berlin wurde nicht nur für Spione zum Tummelplatz, auch Glücksritter und die einfachen Menschen sahen ihre Zukunft in der Stadt und vor allem auf den Wegen, die wieder aus ihr heraus führten.
Glücksspiel mit der Freiheit
Mit dem überraschenden Mauerbau am 13. August 1961 war Ostberlin ein Coup gelungen, der nicht nur die Westalliierten überraschte, sondern der auch die Freiheit zu einem regelrechten Glücksspiel machte. Werner Buchholz, der 1956 selber die DDR in Richtung Bunderepublik verlassen hatte, leistete in dieser Zeit in der neu aufgestellten Bundeswehr Wehrdienst.
Peter Fechter, nur wenige Jahre jünger als Werner Buchholz, lebte als drittes von vier Kindern bei seinen Eltern im Ostberliner Stadtteil Weißensee. Die Teilung der Stadt, die Mauer und die bewaffneten Grenzposten waren für alle unübersehbar und doch waren es vor allem die jungen Leute, die diese verordnete Trennung nicht akzeptieren wollten. 26 Menschen starben durch die Mauer im ersten Jahr ihres Bestehens, noch vor dem Tod Peter Fechters: Männer und Frauen verunglückten bei ihrer Flucht tödlich oder sie wurden erschossen. Aber auch junge Fluchthelfer und Grenzsoldaten zählten zu den Mauertoten zwischen August 1961 und 1962.
Werner Buchholz: Augenzeuge der Unmenschlichkeit
Wie viele andere zog es auch Werner Buchholz nach Westberlin. Gerade hatte er den Wehrdienst in der Bundesrepublik beendet. Nun suchte er Arbeit. Am Mittag des 17. August 1962 kam er als Arbeitsuchender ins Westberliner Arbeitsamt, das sich unmittelbar an der Mauer und unweit des Checkpoint Charlie befand. Durch den Hinterausgang verließ er das Gebäude wieder und erblickte, wie er später berichtete, das erste Mal die Berliner Mauer in ihrem ganzen Ausmaß. Doch blieb ihm nicht viel Zeit zu überlegen, denn zwei junge Männer waren auf der Mauer: Peter Fechter und sein gleichaltriger Arbeitskollege Helmut Kulbeik. Beide hatten in der Mittagspause ihre Baustelle in Berlin-Mitte verlassen, um zu flüchten. Fechters Eltern ahnten nichts von den Plänen ihres Sohnes.
Kulbeik konnte in den Westen springen, während sich Fechter noch auf der Mauer befand. Dann fielen die ersten Schüsse. Ganz automatisch schmiss sich der gerade entlassene Soldat Buchholz auf den Boden. Doch dann rief er mit den anderen Passanten Fechter zu, dass er springen solle. Wie in Schockstarre, berichtet Werner Buchholz, stand Peter Fechter auf der Mauer, als ihn wenige Sekunden später die zweite Gewehrsalve mit 34 Schuss von hinten in den Unterleib traf.
Ohnmacht auf beiden Seiten des Todesstreifens
Werner Buchholz hörte nur noch den Schrei des getroffenen Peter Fechter, bevor er von der Mauer verschwindet. Im ersten Moment, so Buchholz, dachte er noch, dass Fechter in den Westteil gefallen sei, doch es gab keine Spur von dem Verletzten. Von den Schüssen aufgeschreckte Passanten und Leute aus dem Arbeitsamt eilten herbei.
Ich rannte auf die Mauer zu, plötzlich kamen auch von woanders Leute her. Alle stürzten auf die Mauer zu und wir schrien nur ganz laut: 'Ihr Mörder, ihr Schweine!'
Nur fünf Minuten nach den Schüssen traf der erste Funkstreifenwagen auf Westberliner Seite ein, doch die mit alten Wehrmachts-Karabinern ausgerüsteten Polizisten griffen nicht ein. Laut Dienstanweisung durften sie nicht einmal an die Mauer herantreten, denn die Zonengrenze war Angelegenheit der Alliierten. Trotz der Hilfeschreie des Verblutenden im Todesstreifen rührten sich weder die amerikanischen Soldaten des nahegelegen Checkpoint Charlie noch die Grenzsoldaten auf der Ostseite. Lediglich Nebelgeschosse wurden von der Ostseite gezündet, um den Fotografen die Sicht zu nehmen. Verbandspäckchen waren das einzige, was Passanten und Polizisten von Westberliner Seite dem tödlich getroffenen jungen Mann zuwerfen konnten. Erst nach 50 Minuten bargen Ostberliner Grenzsoldaten den Schwerverletzten aus dem Todestreifen. Viel zu spät für den jungen Mann, dessen Beckenschlagader durch die Geschosse getroffen wurde. Ein Ostberliner Streifenwagen brachte den jungen Mann in das Polizeikrankenhaus nach Weißensee. Eine Stunde nach den Schüssen auf Fechter stellte der diensthabende Arzt nur noch fest, dass er nicht mehr ansprechbar war. Peter Fechter war verblutet.
Peter Fechter gab den Maueropfern ein Gesicht
Auch wenn Peter Fechter nicht der erste Mauertote war, so war er doch das erste Opfer unter den Augen der Öffentlichkeit. Die Film- und Fotoaufnahmen seines Todeskampfes im Niemandsland zwischen Ost und West gingen um Die Welt. Er gab den Maueropfern ein Gesicht. Der Tod des 18-Jährigen löste in Ost und West gleichermaßen Bestürzung aus. Schon am nächsten Tag protestierten auf der Westseite 500 Menschen an der Mauer. Zwei Tage später waren es 20.000, die sich auf dem Kurfürstendamm zu einem Protestzug zusammenfanden. Mehrere Zwischenfälle zählte man in den Tagen nach dem 17. August an der Grenze. In Ostberlin kamen über 300 Menschen zur Beerdigung, obwohl die Behörden den Eltern strenge Auflagen machten. Weder Einladungen noch eine Traueranzeigen durfte es zur Beerdigung Peter Fechters in Weißensee geben.
Die Stelle in der heutigen Zimmerstraße, an der das DDR-Grenzregime zur tödlichen Gewissheit für die Weltöffentlichkeit wurde, kann man heute in wenigen Sekunden mit ein paar Schritten überqueren. An die unzähligen Opfer erinnert heute ein 2,60 m großes Denkmal für Peter Fechter.