Fluchtversuch über die "unsichtbare Grenze" Flucht über die Ostsee: Das tragische Fluchtschicksal einer Familie aus Sachsen
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10. September 2021, 16:31 Uhr
Im Ostsee-Urlaub 1979 wollen zwei Brüder aus Sachsen mit Ehefrauen und einem Kind von der Außenküste der DDR nach Dänemark flüchten – alle ertrinken. Sie sind die größte Gruppe, die je bei einem Fluchtversuch in der Ostsee ums Leben kommt. Vor Rügen werden die Leichen von Fischern geborgen. Ein Vermisster bleibt verschollen. Das Verschwinden hinterlässt bei den Verwandten Fassungslosigkeit und viele Fragen, die jahrzehntelang ungeklärt bleiben. Die verdrängte Fluchtgeschichte einer Familie.
Im September 1979 wird an der Küste vor Rügen ein leerer, selbst gebauter Faltboot-Katamaran aus der Ostsee geborgen. Die zwei jungen Familien Balzer aus Arnsdorf bei Dresden hatten sich auf den Weg gemacht: raus aus der DDR, über die Ostsee in die Freiheit. Der demolierte Katamaran lässt Schlimmstes befürchten.
Republikflucht aus der DDR: Fluchtversuch über die Ostsee
Die 29-jährige Renate, ihr 30-jähriger Ehemann Ulf und die zweijährige Tochter Ines sind verschwunden. Ebenso Ulfs 24 Jahre alter Bruder Lutz und seine 19-jährige Ehefrau Manuela. Anfang September waren sie nach Nonnewitz auf die Insel Rügen in den Urlaub gefahren. Auf einem Campingplatz in Strandnähe wird die Stasi später ihre verlassenen Zelte finden. Von dort aus hatten die Familien Balzer am Abend des 10. September die zwei zusammengeschraubten Boote mit Außenbordmotor zum Strand geschafft – und die Flucht versucht.
Ostsee-Fluchten häufig im Spätsommer
In der DDR war die Urlaubssaison auch Fluchtsaison. Viele fluchtwillige DDR-Bürger nutzten die vollen Strände als Tarnung, um die Umgebung zu erkunden. Wie neue Forschungen zeigen, haben die meisten die Flucht erst im Spätsommer angetreten.
Wissenschaftlern der Universität Greifswald zufolge wurden die meisten Todesfälle von August bis Oktober verzeichnet. Laut Historikerin Merete Peetz war die Ostsee dann noch aufgeheizt vom Sommer, Herbststürme hatten noch nicht eingesetzt. Gleichzeitig sei die Grenzsicherung nicht mehr so stark gewesen, weil die Urlaubssaison vorbei war.
Nach den ersten Verhören der Stasi bei den Verwandten und Freunden im sächsischen Heimatdorf Arnsdorf wird langsam deutlich, dass die versuchte Republikflucht kaum gut ausgegangen sein kann. Mit jedem vergangenen Tag schwinden die Chancen, dass die fünf Vermissten es geschafft haben könnten. Bald wird klar, dass sie ums Leben gekommen sind: Die Besatzung eines Fischkutters vor Kap Arkona findet am 24. September eine erste Leiche, nach und nach werden weitere zwei Tote geborgen. Manuela wird erst ein halbes Jahr später gefunden. Der Verbleib ihres Schwagers Ulf bleibt über 40 Jahre ungeklärt. Er wird weder tot noch lebendig aufgefunden.
Die Unfall-Lüge: Fluchtversuch oder "Badeunfall"?
Vom Verdacht einer versuchten Republikflucht ist schnell keine Rede mehr. Plötzlich deklarieren die DDR-Behörden die Tragödie als Unfall, niemand darf mehr darüber reden. Mit der Deklaration "Badeunfall" soll das Schicksal der fünf Ertrunkenen nicht mehr als Republikflucht bezeichnet werden. Roland Jahn, der ehemalige Bundesbeauftragte der Stasiunterlagenbehörde, erklärt, dass gescheiterte Ostseefluchten von der "Stasi manchmal ganz bewusst als Vermissten-Fälle abgehandelt wurden, weil man nicht zugestehen wollte, dass schon wieder jemand über die Ostsee versucht hat zu flüchten."
Es wurde vertuscht als Badeunfall. Und wir hätten es auch geglaubt - wenn wir damals nicht die Kassette gehabt hätten!
Die Brüder Ulf und Lutz hatten vor ihrer Flucht bei den Eltern eine Kassette mit Wertsachen hinterlassen. Als die Todesnachricht kommt, öffnen sie diese und finden darin ein Kassettenband. Darauf erzählen die Brüder, dass sie hoffentlich gut angekommen sind und zu ihrer Schwester Silke fahren und im Westen leben wollten. "Sonst hätten wir es womöglich geglaubt mit dem Badeunfall", erzählt Silke Daubner. Sie war im Juni 1961, zwei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer, in den Westen gegangen.
Verdrängte Familiengeschichte – Tod in der Ostsee
Die Hinterbliebenen der vier jungen Erwachsenen und des Kleinkindes ringen seit Jahrzehnten mit den Schatten der Vergangenheit. Hans Junold, der jüngere Bruder der ertrunkenen Renate Balzer, verliert bei dem Unglück seinen Schwager, seine zweijährige Nichte, seinen besten Freund und dessen Frau.
Sollte man die Sache ruhen lassen, sollte man die alten Geschichten nach 40 Jahren wieder aufwärmen? Eigentlich hätte ich die ganze Geschichte komplett ausgeblendet. Einfach die Angst, wieder Spießruten zu rennen, wie es vor 40 Jahren war.
Die Familie Junold erzählt nach langem Ringen ihre Perspektive des tragischen Fluchtversuchs und fragt sich vor allem, ob die große Schwester der beiden Brüder Ulf und Lutz Balzer bei der Planung des Fluchtversuchs eingeweiht war. Wusste Silke Daubner von den Ausreise-Träumen ihrer nahen Verwandten? Hat sie bei der Planung vielleicht sogar mitgeholfen? Die Familien haben heute keinen direkten Kontakt mehr miteinander. Der tragische Tod hat sie entzweit statt sie zusammenzuschweißen.
Die Ostsee - ein gefährlicher Fluchtweg
Zwischen dem Bau der Mauer im August 1961 und dem 9. November 1989 war die Ostsee die Grenze zwischen DDR und Freiheit. Das Meer wurde zum Ort der Sehnsucht - und zunehmend zum gefährlichen Fluchtweg. Denn hier gab es zwar keine Mauern mit Selbstschussanlagen, dafür aber meterhohe Wellen und raue Stürme. An der 377 Kilometer langen Außenküste der DDR starben mutmaßlich mindestens 180 Erwachsene und Kinder beim Versuch, in den Westen zu flüchten - mehr als an der Berliner Mauer.
Nach Recherchen von Bodo Müller, Autor des Buches "Über die Ostsee in die Freiheit", versuchten in den 28 Jahren nach Mauerbau insgesamt mehr als 5.600 DDR-Bürger, ihr Land auf dem Seeweg zu verlassen. Sie benutzten Schlauch- oder Ruderboote, auch Kanus und selbstgebaute Surfbretter kamen zum Einsatz. Viele versuchten auch, in den Westen zu schwimmen. 1985 versuchte Bodo Müller selbst über die Ostsee zu fliehen. Nach seinen Recherchen erreichten mindestens 901 DDR-Bürger auf diesem Weg tatsächlich die Bundesrepublik, Dänemark oder Schweden. Die meisten Fluchtversuche allerdings scheiterten, viele Fluchtwilligen wurden von DDR-Grenztruppen gestellt und kamen ins Gefängnis.
Seegrenze - für viele DDR-Flüchtlinge tödliche Falle
Fluchtwilligen DDR-Bürgern erschien es einfacher und weniger lebensgefährlich, dem Land über die Ostsee zu entkommen. Experten verweisen allerdings auf die großen Risiken, insbesondere für diejenigen, die sich mit einem solchen kleinen, aber durchaus tückischen Meer nicht auskannten.
Die große Bedeutung bekam die Ostsee mit dem Mauerbau und mit der wirklich massiven Abschottung der innerdeutschen Grenze.
Spurensuche auf Rügen: Was ist damals genau passiert?
Familie Junold beschäftigen nach wie vor viele offene Fragen: Wie waren die Wetter-Bedingungen an diesem Septemberabend vor Rügen? Was hat letztendlich den Tod ihrer Verwandten verursacht? Und was geschah mit Ulf, dem nie gefundenen fünften Vermissten?
Mehr als 40 Jahre nachdem die jungen Menschen aus einem sächsischen Dorf samt Kleinkind bei ihrem Fluchtversuch in der Ostsee ertrunken sind, wagen sich die Hinterbliebenen an die Aufarbeitung der ungelösten Fragen – gemeinsam mit den Filmemachern Rikke Detlefsen und Jesper Clemmensen.
Die vierteilige deutsch-dänische Doku-Serie "Tod in der Ostsee" rekonstruiert erstmals die Tage und Wochen vor dem gescheiterten Fluchtversuch im September 1979 und erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven die Ereignisse in der Zeit danach. Den Filmemachern ist es gelungen, dass sich die Familien Jahrzehnte später der bisher nicht aufgearbeiteten und besonders dramatischen Fluchtgeschichte stellen und über die belastenden Ereignisse von damals und ihren Auswirkungen bis ins Heute sprechen.
Als Format für die ARD Mediathek wendet sich die Reihe gezielt an junges Publikum.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Wir Kinder der Mauer - Tod in der Ostsee | 08. August 2021 | 22:30 Uhr