DDR-Geschichte Aktion Ungeziefer: Zwangsaussiedlung aus dem Grenzgebiet
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26. Mai 2022, 01:44 Uhr
Ab dem 26. Mai 1952 riegelte die DDR-Führung endgültig die innerdeutsche Grenze ab. Gleichzeitig wurde mit der Zwangsaussiedlung "politisch unzuverlässiger" Einwohner des Grenzgebiets ins Landesinnere begonnen. Das Maßnahme lief unter dem Decknamen "Aktion Ungeziefer".
Gitta Kappe ist heute 90. Als die Grenze geschlossen wurde, war sie erst 20 Jahre alt – und befand sich gerade auf der "falschen" Seite. Sie war auf Arbeit im niedersächsischen Schöningen, als Kinder- und Hausmädchen bei einer Arztfamilie. Die vier Kilometer bis in ihren Heimatort Hötensleben legte sie immer mit dem Fahrrad zurück, erinnert sich die Zeitzeugin. Für sie war klar, sie will wieder nach Hause zurück, nach Hötensleben, wo ihre Eltern und ihr Verlobter warteten. Nachdem sie einige Zeit lang bei ihren Arbeitgebern im Westen ausharren musste, wagte sie eine Rückkehr – etwas, was sie bis heute bereut.
Nicht nur, dass sie an der Grenze erwischt und eingesperrt wurde. Sie glaubt auch, dass sie gut ein Leben im Westen hätte führen können. Stattdessen arbeitete sie in einem Lebensmittelladen in Hötensleben, lebte Jahrzehnte im Sperrgebiet eingeschlossen, mit Blick auf die Grenze. Wegziehen aus dem Ort, in dem sie geboren und aufgewachsen war, kam für sie aber nicht in Frage.
Zwangsumsiedlung "feindlicher Elemente"
Viele Menschen aus dem Grenzgebiet traf es aber noch härter – sie wurden in diesen Tagen zwischen Ende Mai und Anfang Juni 1952 zwangsausgesiedelt. So auch im 100-Seelen-Dorf Stresow, rund 100 Kilometer nördlich von Hötensleben an der Elbe gelegen. Die Lkw kamen im Morgengrauen mit gedrosseltem Motor. Von den Pritschen sprangen bewaffnete Volkspolizisten herunter, drangen in die Häuser vor und gaben knappe Anweisungen: "Fertig machen. Sachen packen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie den Grenzkreis sofort verlassen." Die Menschen durften schnell noch ein paar Habseligkeiten zusammensuchen, dann wurden sie auf die Lkw verladen und in hastig errichtete Notquartiere in der gesamten DDR gebracht. Mehr als die Hälfte der Einwohner mussten den Ort verlassen.
So wie Stresow wurden Hunderte Dörfer zwischen Rhön und Ostsee entvölkert. Sie hatten in den Augen der Staatssicherheit einen entscheidenden Makel – sie lagen zu nah an der Grenze zum Westen. Der Tarnname der Zwangsumsiedlungsaktion war: "Aktion Ungeziefer". Sie war minutiös geplant und galt als "geheime Verschlusssache". Eine gesetzliche Grundlage für diese Aktion existierte nicht. Sie basierte lediglich auf Befehlen und Weisungen des Ministers für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser und stand in krassem Gegensatz zur DDR-Verfassung.
Abriegelung der DDR-Grenze
Auslöser für die Zwangsumsiedlungen war die Verordnung des Ministerrates vom 26. Mai 1952 "über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands", die einen zügigen Ausbau der innerdeutschen Grenze vorsah. Es wurden Wachtürme errichtet, mannshohe Zäune gezogen und ein 500 Meter breiter Schutzstreifen angelegt, der nur bei Tageslicht und mit einem Sonderausweis betreten werden durfte. Der gesamte Grenzraum bis zu einer Tiefe von fünf Kilometern wurde zur "Sperrzone" erklärt.
Anfänglich richtete sich die Zwangsumsiedlung nur gegen "feindliche, verdächtige und kriminelle Elemente", die schnellstmöglich aus dem Grenzbereich entfernt werden sollten. Das konnten Bauern sein, die sich der Kollektivierung widersetzten, Personen "mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr" oder einfach Menschen, die eine andere politische Meinung hatten. Der Rahmen war von der Staatssicherheit weit gespannt. Nicht selten genügten aber auch Denunzierungen, um auf die Liste der "feindlichen Elemente" gesetzt zu werden.
Entvölkerung ganzer Dörfer entlang der Grenze
Im weiteren Verlauf der Zwangsumsiedlungsaktionen wurden ganze Dörfer und Gemeinden im Grenzgebiet entvölkert. Von der "Aktion Ungeziefer" waren in den 1950er-Jahren etwa 10.000 Menschen betroffen, von der "Aktion Kornblume" im Jahr des Mauerbaus 1961 noch einmal etwa 2.000. Mehr als 3.000 Menschen entzogen sich der Umsiedlung durch Flucht in den Westen. Selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren gab es noch vereinzelte Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet.
Für die Zwangsumgesiedelten war der Abtransport aus ihren Häusern in den meisten Fällen ein Abschied auf Nimmerwiedersehen. Die entvölkerten Dörfer wurden im Zuge des weiteren Ausbaus der Grenzsicherungsanlagen oft dem Erdboden gleich gemacht, so wie Stresow, für das am 30. Juni 1974 die letzte Stunde geschlagen hatte: Die wenigen Einwohner, die bei früheren Aussiedlungsaktionen verschont geblieben waren, mussten nun das Dorf verlassen, das aus Sicht der DDR-Oberen zu nah an der "Staatsgrenze West" lag. Heute erinnert nur ein Gedenkstein daran, die Natur hat sich das Gelände zurückerobert. Eine Entschädigung für den Verlust von Häusern und Höfen war nicht vorgesehen. Stattdessen legte die Staatssicherheit den Betroffenen dringlich nahe, Stillschweigen über das Geschehen zu wahren.
Die ehemaligen Einwohner von Stresow hatten Pech – sie konnten ihre Häuser nach dem Mauerfall nicht zurückbekommen, weil diese längst abgerissen waren. Für Gitta Kappe aus Hötensleben gab es dagegen ein kleines Happy End. Sie machte sich auf nach Schöningen, das sie von Hötensleben all die Jahre sehen konnte und das gleichzeitig unerreichbar war. Kontakt zu "ihren Kindern" bei der Arztfamilie hatte sie all die Jahre per Post gehalten. "Das konnte man gar nicht fassen, dass es noch mal anders wird", erinnert sie sich heute.
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | SACHSEN-ANHALT HEUTE | 26. Mai 2022 | 19:00 Uhr