25. November 1986 Flucht über die eiskalte Ostsee
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15. Februar 2022, 16:36 Uhr
Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 war die Ostsee die Grenze zwischen DDR und Freiheit. Das Meer wurde zum Ort der Sehnsucht - und zunehmend zum gefährlichen Fluchtweg. Hier gab es zwar keine Mauern mit Selbstschussanlagen, dafür aber meterhohe Wellen und raue Stürme. Trotzdem wagten tausende Menschen den Weg übers Meer. Viele kamen dabei ums Leben.
Über das Meer in die Freiheit: Am 25. November 1986 wagten die zwei Windsurfer Dirk Deckert und Karsten Klünder die Flucht über das Meer. Ihr Plan: Von Hiddensee Richtung Dänemark surfen. Die Boards hatten sie sich aus Styropor von Bauisolierplatten gebaut. Als Vorlage diente ihnen eine Illustrierte aus dem Westen. Als Masten mussten Hochsprungstangen herhalten, die Segel bastelten sie aus Bauplanen und die Neoprenanzüge hatten sie sich aus Tschechien besorgt.
Noch vor Sonnenaufgang stürzten sie sich an diesem Novembermorgen in die eiskalten Fluten. Nach vier Stunden schaffte Karsten die Odyssee nach Dänemark. Doch sein Freund fehlte. Weit und breit keine Spur.
Denn Dirk riss sich beim Start seinen Anzug kaputt. Der Schutz vor der tödlichen Kälte war dahin. Er musste abbrechen. Am nächsten Tag reparierte er seinen Neo notdürftig mit Fahrradflickzeug und versuchte es in der Nacht erneut. Am 26. November 1986 wurde er schließlich 30 Kilometer vor der dänischen Küste aus dem Wasser gefischt – völlig erschöpft, doch überglücklich.
Standardwerk von Bodo und Christine Müller
Wie die zwei Surf-Freunde flüchteten tausende Menschen schwimmend, tauchend, paddelnd oder surfend die Freiheit. Doch nicht alle hatte so viel Glück. Viele ertranken, erschöpft und unterkühlt.
Mit den Geschichten dahinter und den Opferzahlen haben sich nach der Wende Bodo Müller und seine Frau Christine in dem Buch "Über die Ostsee in die Freiheit" beschäftigt. 1985 versuchte Bodo Müller selbst über die Ostsee zu fliehen. Doch er scheiterte, wurde verhaftet und im berüchtigten Rostocker Stasi-Gefängnis inhaftiert.
Anfangs, so schilderte es der Autor, sei er davon ausgegangen, dass sich lediglich ein paar wenige wagemutige DDR-Bürger für den gefährlichen Fluchtweg über die Ostsee in die Freiheit entschieden hätten.
Als wir dann aber die Akten der Grenzbrigade Küste einsahen, da waren wir so schockiert, dass das nicht nur ein paar verrückte Segler waren, sondern dass es eine Massenflucht war, insbesondere ab Anfang der 1980er-Jahre.
Nach ihren Recherchen gab es zwischen dem Bau der Mauer im August 1961 und dem 9. November 1989 etwa 5.600 Fluchtversuche über die Ostsee, und das "unter den unmöglichsten Bedingungen, teilweise schwimmend, mit Luftmatratze, mit Kanu, mit Faltboot, (...) es wurden U-Boote gebaut."
Mindestens 174 Erwachsene und Kinder starben
901 DDR-Bürger seien auf diesem Weg in die Freiheit geflüchtet. Die meisten Fluchtversuche allerdings scheiterten, viele wurden von DDR-Grenztruppen gestellt und kamen ins Gefängnis. Mindestens 174 Erwachsene und Kinder kamen ums Leben.
Bodo und Christine Müller gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee ihr Leben verloren, wohl nie ermittelt werden kann. "Wer nicht gesehen wurde, wie er in die Ostsee ging und auch später nicht als Leiche angespült wurde, wird sicher für immer verschwunden bleiben", meint Bodo Müller. Auch unbekannte Opfer gebe es. So seien im Mai 1989 zwei unbekannte Tote, ein Vater mit Kind, geborgen worden.
Die letzte bekannte Flucht über die Ostsee unternahm am 2. September 1989 Mario Wächtler. Stundenlang war er im Neopren-Anzug bereits durch die kalte Ostsee geschwommen, als er von einer westdeutschen Fährbesatzung entdeckt wurde. Völlig erschöpft wurde er gerettet.