Polen Die Großbaustellen der Stalin-Ära
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04. Januar 2016, 18:52 Uhr
Mit dem Tod von Josef Stalin im Jahr 1953 ging auch in Polen eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte zu Ende – eine Zeit, die von Personenkult und Terror geprägt war, aber auch von großen Umwälzungen. Das Polen von 1953 war völlig anders als das von 1939, denn die sozialistische Brachial-Industrialisierung nach sowjetischen Vorbild bedeutete – ungeachtet all ihrer Schwächen und Nachteile – einen enormen Modernisierungsschub. Vielerorts prägten nicht mehr Kornfelder und Scheunen die Landschaft, sondern Schornsteine und Fabrikhallen. Das rückständige Agrarland war in die Zukunft aufgebrochen.
Während der sogenannte Dreijahresplan zwischen 1947 und 1949 dem Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Wirtschaft diente, sollte der Sechsjahresplan ab 1950 Polen in eine moderne Industrienation verwandeln. Ähnlich wie im Sowjetreich genossen Schwerindustrie und Metallurgie dabei höchste Priorität. Sozialistische Großbaustellen schossen wie Pilze aus dem Boden – gebaut wurden Eisenhütten, Chemiewerke, Autofabriken und Werften. Für deren Arbeiter wurden großzügige, lichtdurchflutete Wohnungen errichtet, nebst Bildungs- und Freizeiteinrichtungen – stets von einem enormen Propagandaaufwand begleitet.
Ein Wolkenkratzer nach Moskauer Vorbild
Das wohl bekannteste Großprojekt der Stalin-Ära war der Kulturpalast in Warschau. Er wurde auf persönliche Anregung Stalins als Geschenk des sowjetischen Volkes an das Polnische errichtet. Die Sowjetunion trug nicht nur alle Kosten, sondern stellte rund 3.500 Bauarbeiter. Die Moskauer Wolkenkratzer im Zuckerbäckerstil – die sogenannten Sieben Schwestern – standen Pate, wobei der Architekt Lew Rudnew bemüht war, auch Elemente des polnischen Baustils zu integrieren. Um entsprechende Anregungen zu sammeln, unternahm er eine Rundreise durch die bedeutendsten Städte des Landes.
Das Gebäude sollte die vermeintliche Größe und Stärke des Sozialismus vor Augen führen. Entsprechend sind seine Dimensionen: Mit 237 Metern Höhe bleibt es bis heute der höchste Wolkenkratzer Polens. 3.288 Räume verteilen sich darin auf 42 Stockwerke und der Stromverbrauch gleicht dem einer 30.000-Einwohner-Stadt.
Ähnlich wie der zwei Jahrzehnte später errichtete Ost-Berliner Palast der Republik war der Kulturpalast als eine Art Volksheim konzipiert. Das polnische Parlament blieb zwar an seinem althergebrachten Sitz, der große, 3.000 Zuschauer fassende Kongresssaal war aber fortan Schauplatz aller Parteitage der Kommunisten. Außerdem wurde er als Konzertbühne genutzt – in den Sechzigern traten dort auch Weststars wie Marlene Dietrich und The Rolling Stones auf. Darüber hinaus beherbergte der Kulturpalast mehrere Theater, Kinosäle, Museen, Forschungsinstitute und eine öffentliche Schwimmhalle.
Und schon kurz nach der Fertigstellung im Jahr 1955 rankten sich um diesen modernen Babelturm mehr Legenden als um jede mittelalterliche Burg. Einen riesigen Atombunker sollte der Wolkenkratzer besitzen, nebst einem eigenen Bahnhof, einem unterirdischen Verbindungsgang zur Parteizentrale und zahllosen geheimen Zimmern. Außerdem machte ein makabres Gerücht die Runde, wonach die Leichen der 16 sowjetischen Arbeiter, die beim Bau tödlich verunglückt waren, in dessen Fundamenten einbetoniert worden seien.
Der von Stalin geschenkte Wolkenkratzer ist schnell zu einem Wahrzeichen Warschaus geworden. Eine Besichtigung war lange Jahre für jeden Hauptstadtbesucher ein Muss – für Otto-Normalverbraucher ebenso wie für Politprominenz. Das Gästebuch weist unter anderem solche Namen aus wie Nikita Chruschtschow, Mohammad Reza Pahlavi, Ho Chi Minh und Kim Il-sung. Das Gebäude spaltet die Polen bis heute. Für die einen ist es Symbol der sowjetischen Fremdherrschaft und ein Relikt stalinistischer Kolonialarchitektur, für die anderen ein historisches Baudenkmal wie jedes andere.