Das Altpapier am 5. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 5. Juli 2022 Vorboten

05. Juli 2022, 09:59 Uhr

Öffentlich-Rechtlichen-Streik, Streamingdienste-Dämmerung, wem gehört die größte deutsche Fernseh-Produktionsfirma? Fotografien sollen keine Ware sein. Ein Victory-Zeichen aus dem Gitterkäfig in Belarus ging um die Welt, half Katerina Andrejewa aber allenfalls begrenzt. Außerdem: "Wertschätzt" Tiktok Datenschutz? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Konzertierter Warnstreik beim SWR

Nachrichtliches Topthema des Montags war Bundeskanzler Scholz' "Konzertierte Aktion" gegen die Inflation mit Anschluss-Aspekten wie der "Tarifautonomie", die im deutschen Wirtschaftssystem eine wichtige Rolle spielt.

Mit feinem Gespür sorgte zur selben Zeit die Gewerkschaft Verdi für etwas, das in der deutschen Tarifpartnerschafts-Landschaft vergleichsweise selten vorkommt: einen Streik. Warngestreikt wurde bei einer der, zumindest Angaben mancher Medien zufolge, für die Demokratie unverzichtbarsten Institutionen: dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, beim SWR in Stuttgart, Mainz und Baden-Baden. Die "Stuttgarter Zeitung" berichtet knapp via dpa. Etwas ausführlicher tut's dwdl.de und nennt auch den Knackpunkt der anlaufenden Tarifrunde:

"Dass der SWR einen eingeschränkten Entscheidungsspielraum hat, liegt auch daran, dass den öffentlich-rechtlichen Sendern Vorgaben durch die Finanzkommission KEF gemacht wurden. Demnach sollen die Personalkosten der Sender nur um jährlich maximal 2,25 Prozent steigen. Ver.di übt daher harsche Kritik an der KEF: 'Diese Vorgabe wurde vor Beginn des Ukrainekrieges gemacht und wird der aktuellen Situation mit Inflationsraten von deutlich über sieben Prozent nicht gerecht', so Siegfried Heim, baden-württembergischer ver.di-Landeskoordinator Medien"

Ob draußen beim Publikum Akzeptanz dafür steigt, dass also der Rundfunkbeitrag für die zahlreichen öffentlich-rechtlichen Angebote steigen muss, womöglich gar auf Inflationsniveau? Oder zumindest bei den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, die faktisch dran drehen könnten (aber oft die eigene Wiederwahl im Blick haben)? Das wird spannend. Auch diesen Streik als einen der Vorboten zu betrachten, von denen gerade häufig die Rede ist, dürfte nicht falsch sein.

Reiten die Streamingdienste in den Sonnenuntergang?

Wichtige Zukunfts-Konkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen sind die Streamingdienste, die immer noch mehr immer noch tollere Serien aus aller Welt anbieten? Na ja.

"Netflix verliert nicht nur erstmals in seiner Unternehmensgeschichte mehr Kunden als es gewinnt, sondern ist auch nicht in Lage, Neukunden längerfristig an sich zu binden", heißt eine neue Netflix-Hiobsbotschaft, die unter Berufung auf "Antenna Research"/vox.com-Daten etwa wuv.de vermittelt. Sie passt zum vergangene Woche verkündeten, teils von Renditewünsche getriebenen, teils gegen neue lokale Gesetze gerichteten, jedenfalls exemplarischen Totalrückzug Netflix' aus dem kleinen Dänemark.

Nun trifft noch ein Totalrückzug eines US-amerikanischen Streamingdiensts "Skandinavien, Zentraleuropa und die Niederlande" sowie die Türkei, berichtet wiederum dwdl.de. Da handelt es sich um "HBOMax", das ebenfalls allerlei lokale Eigenproduktionen in unterschiedlichen Stadien abbrach. Deutschland ist davon nicht direkt betroffen, weil dieses Dings hierzulande noch gar nicht angelaufen war (obwohl: wenn nicht Deutschland, was ist denn sonst "Zentraleuropa"?). Wird es auch nicht mehr, weil in den USA Warner Media und Discovery fusionierten, dessen "discovery+" ("der weltweit führende Streaming-Dienst für Non-Fiction- und Real-Life-Entertainment-Inhalte") gerade offenbar anlief und das an ProSiebenSat.1' Joyn ja auch beteiligt ist. Unendlich ist der Bedarf an Streamingangeboten offenbar nicht. "Das goldene Zeitalter der sorgenfreien Streamingdienste" ende nun, schreibt dwdl.de-Chef Lückerath in einem nächtlichen Leitartikel.

Na ja, so funktioniert Plattformkapitalismus. DAZN, sozusagen das Sport-Netflix (wie das ebenfalls US-amerikanische Unternehmen sich einst ja anpries), verdoppelte gerade praktisch seine Abokosten für alle (siehe etwa "Berliner Zeitung"). DAZN steht in seinem Segment ja bereits vergleichsweise konkurrenzarm da. Das Angebot an Fußballspielen und -ligen lässt sich zwar auch erhöhen, Stichwort: Nations League, aber nicht in dem Ausmaß wie Fernsehspiele und -serien. (Und wenn Mario Götze, der einzige lebende männliche Deutsche, der ein Fußball-WM-Finale aus dem Spiel heraus entschied, mit Eintracht Frankfurt in der Champions League spielt, werden schon neue Hochpreis-Abos rausspringen ...).

Leonine, Springer, GfK: Medienkonzern KKR

"Überraschend positive Bilanz" beim Münchner Filmfest zieht die "FAZ": "Das von Klaus Lemke, dessen Best of-Hommage seiner Filme unter dem Ti­tel: 'Champagner für die Augen – Gift für den Rest' das Publikum bejubelte, so gern ad absurdum geführte Isarflimmern herrschte vor", schreibt Jörg Seewald, und von  vielen guten deutsche Serien, von Netflix' "King of Stonks" über Amazon- und Sky-Produktionen bis hin zur zu "großen Hoffnungen" berechtigenden ARD-Produktion "Lauchhammer".

Wer ist eigentlich der größte deutsche Fernseh-Produzent und zu wem in der globalisierteren Medienwelt gehört er? Solche Fragen spielen hierzulande selten eine Rolle. Noch ein dwdl.de-Artikel gibt Antwort. Es ist nicht die Constantin (zu der die "Lauchhammer"-Produktionsfirma Moovie gehört): "Mit 332 Millionen Euro Umsatz (im Geschäftsjahr 2020) ist Leonine Studios die größte deutsche Produktions- und Programmvertriebsgruppe", weiß Torsten Zarges. Das von Fred Kogel geleitete Konglomerat hat 700 Mitarbeiter. Und auch, wenn es sich sich immer "unabhängiges deutsches Medienunternehmen" nennt, ist der Haupteigentümer (ohne dass man schnell genaue Angaben findet) der US-amerikanische Finanzinvestor KKR – der ja außerdem größter Eigentümer des Springer-Konzerns ist.

Was auch noch KKR gehört: die GfK, also die einstige "Gesellschaft für Konsumforschung" aus Nürnberg, die seit Jahrzehnten das vermutlich lukrative Geschäft, auf komplizierte, aber allseits akzeptierte Weise die deutschen Fernseh-Einschaltquoten zu ermitteln, betreibt. Just kündigte die GfK an, mit der ebenfalls Finanzinvestoren-besessenen Firma NielsenIQ aus Chicago zu fusionieren, ohne dass das viel Echo auslöste.

Rasch noch eine Meldung von einem anderen Ende des Medienunternehmens-Spektrums, die die "FAZ" bringt: Die Bildagentur laif gehört sich nun selbst, also einer von ihren Fotografen, über 300, gegründeten Genossenschaft. Womit sie nicht mehr Action Press AG oder ddp Media GmbH (rein nominell war DDP die Nachrichtenagentur der DDR, aber das hat nichts mehr zu bedeuten ...) gehört. Aufmerksamkeit verdient die teils begreiflich sorgenvolle, dann aber auch bemerkenswert optimistische Erklärung der Genossen:

"Wir denken, dass wir der Verantwortung für unsere Bilder nur nachkommen können, wenn Fotograf*innen unabhängig von äusseren Interessen arbeiten können. In diesem Kontext sehen wir mit Sorge die zunehmende Pressekonzentration einhergehend mit einem click-gesteuerten Journalismus, der Bilder nur noch zu möglichst billigen Konditionen nutzt und als reine Ware betrachtet. Der große Zuspruch, den wir als 'laif Genossenschaft' aus dem Kreis der Fotograf:innen und Teilen der engagierten Zivilgesellschaft in den letzten Wochen erfahren haben, lässt uns positiv in die Zukunft blicken.

Rangliste der Pressefreiheit: Platz 149, 153 und 175

Wie immer: In weiten Teilen der Welt, aber gar nicht weit entfernt, gibt es erheblich existenziellere Probleme. Leider Aufmerksamkeit verdient Belarus, wo am gestrigen Montag "hinter verschlossenen Türen ein Prozess wegen Landesverrats" begann, und zwar gegen die ohnehin schon eingekerkerte Journalistin Katerina Andrejewa. Bilder, wie sie "in einem Gitterkäfig ... lächelnd das Victory-Zeichen" zeigte, erschütterte[n] im Februar 2021 das Fernsehpublikum in aller Welt", schreiben die Reporter ohne Grenzen. (Und weil Bilder doch auch sekundenschnell verfügbare Ware sind: hier, via Metager in der Schweiz gefunden). "Was genau ihr vorgeworfen wird, ist unbekannt. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug", so die ROG/RSF, die in der gewohnten, wertvollen Akribie dann weitere sieben Fälle gebrochener Pressefreiheit in Belarus nennen.

Wäre das Altpapier ein Quizformat böte sich die Frage an, wie weit entfernt auf der Rangliste der Pressefreiheit der erste (unterste) NATO-Mitgliedsstaat steht. Vier Plätzchen sind es nur. Die Türkei liegt auf Platz 149, und sie arbeitet daran, ihren Ruf als eines der größten Journalisten-Gefängnisse auszubauen. "Nach Zählung der Opposition wurden allein im Juni 30 Journalisten ... festgenommen. Zwanzig von ihnen kamen bei einer Polizeiaktion im kurdischen Südosten des Landes in Haft", berichtet Susanne Güsten im "Tagesspiegel". Selbstredend lautet da der Vorwurf, die PKK zu unterstützen – wie bei den Exilanten, deren Auslieferung das Erdogan-Regime von den NATO-Beitrittskandidaten Schweden und Finnland erwartet (Altpapier gestern).

Während die "Berliner Zeitung" anhand der "trilateralen Absichtserklärung zwischen der Türkei, Finnland und Schweden" glaubt, dass die Türkei sich ihre Zustimmung teuer erkaufen ließ ("Auch die Pressefreiheit wird auf Wunsch Erdogans eingeschränkt. Die Medien auch in Finnland und Schweden müssen sich künftig an die Einstufungen aus der Türkei halten"), berichtet Güsten dann noch von einem türkischen Gesetzesplan, der 

"Haftstrafen von bis zu drei Jahren für jeden vorsieht, der 'irreführende' Nachrichten verbreitet und damit 'Angst und Panik' auslöst. Mit dem geplanten Gesetz werde die regierungstreue Justiz vor der Wahl Tausende kritische Twitter-Kommentare verfolgen können, sagt der Medienexperte Yaman Akdeniz. Damit würde die Regierung eine Lücke schließen. Sie hat über regierungsfreundliche Verleger die meisten konventionellen Medien auf ihre Linie gebracht, doch bei den sozialen Medien und dem Internet ist ihr das bisher nicht gelungen."

Ein ganzes Stück weiter unten in der RSF-Liste rangiert China (Platz 175). Um ein gestern hier aufgegriffenes Thema geht es heute auch größer: die Frage, auf welche Daten internationaler Nutzer die Tiktok-Zentrale in China zugreifen kann. Im "SZ"-Wirtschaftsressort rekapituliert Simon Hurtz die Entwicklung in den USA, die dazu führte, dass nach Vorgänger Trump (aus eher anderen Motiven) nun auch Präsident Bidens Regierung sich mit der Frage befasst. Zumindest teilweise gibt die "SZ" Entwarnung. Bislang sieht es aus, als sammle Tiktok bloß "ähnlich viele Daten wie Instagram oder andere Social-Media-Apps" auch. Vom Tiktok-Deutschland-Chef Tobias Henning ließ sie sich sagen, dass Tiktok "Datenschutz wertschätzt" und mit China eigentlich nichts zu tun habe. Einen bis anderthalb andere Spins hat netzpolitik.org:

"Die US-Republikaner:innen nutzen TikToks Verbindung zu China für ihren nationalistischen Populismus ... Bei dem Thema vermischen sich anti-asiatischer Rassismus und legitime Sorgen vor dem möglichen Zugriff eines autoritären Regimes auf sensible Daten",

heißt es dort. Wer darin Vorboten kommender – großer – Konflikte sieht, dürfte kaum falsch liegen.


Altpapierkorb (Deutschland sucht den DSC, "konkret"-Streit, "Miss Merkel"-Krimi, zu Guttenberg zu RTL, "Goldene Sonne")

+++ Der neue Digital Services Act soll heute durchs EU-Parlament. Und auf der "FAZ"-Medienseite eruieren Tabea Rößner und Kalle Hain, Direktor des Medienrechts-Instituts der Uni Köln, schon mal, wer in Deutschland der "Digital Services Coordinator (DSC)" werden könnte, den dann alle Mitgliedstaaten benennen müssen. Antwort: Hmpf. "Denn die Kompetenzen der Regulierung digitaler Dienste sind auf verschiedene Behörden auf Bundes- und Länderebene verteilt", und die "austarierten interföderalen Strukturen der Medienaufsicht" im über Jahrzehnte gewachsenen Institutionendschungel wollen offenbar auch die Grünen (zu deren wichtigen Medienpolitikerinnen Rößner ja gehört) offenbar nicht groß angehen. "Eine Regelung dieser Frage und des Verfahrens der Koordination sollte jedenfalls in enger Abstimmung zwischen Bund und Ländern erfolgen."

+++ Es gibt gerade viel Streit um kleine, aber traditionreiche Medien, auch um "konkret". Inzwischen mehr als 30 Unterschriften hat die Erklärung "Warum wir nicht mehr für Konkret schreiben",  woraufhin "konkret" zurückerklärte, dass es mit "einem großen Teil" der Unterzeichneten "bereits vor Jahren die Zusammenarbeit ... aus inhaltlichen Gründen eingestellt" habe ("Telepolis").

+++ Die Frage, was aus dem philippinischen Medium "Rappler" wird (Altpapier), beschäftigt Korrespondent Michael Lenz in der "taz".

+++ Wer Wert auf Staatsferne oder wenigstens nicht zu große Regierungsnähe der Öffentlich-Rechtlichen legt, kann froh sein, dass ein fiktiver Krimi mit Katharina Thalbach als "Miss Merkel" nicht bei ARD oder ZDF laufen wird, sondern bei RTL. "Angela Merkel einen so schönen neuen Beruf wie den einer Hobbydetektivin zu geben in Anlehnung an Miss Marple – da konnte ich nicht nein sagen", sagt Thalbach im "SZ"-Interview (€).

+++ Viel Aufmerksamkeit erzeugte RTL auch durch die angekündigte Verpflichtung des prominenten Ex-Ministers Karl-Theodor etc. zu Guttenberg für noch nicht spezifizierte "Docutainment-Sendungen". "Angaben zum Thema der Sendungen machte die RTL-Pressestelle auf Nachfrage nicht, versprach aber: 'Wir halten Sie gerne im Loop'", schreibt Michael Ridder bei "epd medien" und trifft den richtigen Ton, mit solchen "Nachrichten" umzugehen.

+++ Und wer aus Verantwortungsbewusstsein nie auf die von "Watson" oder "Outbrain" am Werberand angebotenen "Du glaubst nicht, wie XY heute aussieht"-Links klickt, aber über ein uebermedien.de-Abo verfügt, könnte sich ersatzweise die Fotos zu David Denks Bericht über die Verleihung des Preises (€) namens "Goldene Sonne" an "alle Überlebenden des Privatfernsehens" ansehen.

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