Das Altpapier am 17. Mai 2022 Das könnte Dich interessieren
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17. Mai 2022, 09:55 Uhr
Amazons Gamer-Plattform Twitch hat beim Livestreaming eines rassistischen Massenmords bemerkenswert schnell reagiert – und doch zu langsam? Die ZDF-Mediathek erhöht ihr "Sehvolumen" durch algorithmische Serendipität. Außerdem: Finsteres zur Medienfreiheit. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Wieder ein Massenmord, der live gestreamt wurde
Neuere Medien sind und verbreiten sich schneller als ältere. Längst geht die Latenz, wie Gamer sagen würden, also der Zeitverzug, gegen Null, und zwar global. Das hat Vor- und Nachteile, je nach Perspektive. Es sei "schwer sich vorzustellen, wie man hier eine bessere Regulierung bekommen könnte", also eine schnellere, sagte gestern der Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich in Deutschlandfunks "@mediasres". Damit meinte er die knapp zwei Minuten, innerhalb derer die vor allem von Gamern genutzte, zum Amazon-Konzern gehörende Video-Plattform twitch.tv am Samstag die Live-Übertragung eines terroristisch-rassistischen Mordanschlags beendet und "das Video offline genommen" haben will. Durch die Tat eines 18-Jährigen verloren in der US-amerikanischen Stadt Buffalo zehn Menschen, vor allem schwarze, ihr Leben.
Trotz dieser Schnelligkeit folgte, überträgt der "Standard" Berichte aus der "New York Times" und weiteren US-amerikanischen Medien ins Österreichische,
"eine Schnitzeljagd für soziale Netzwerke wie Facebook, Tiktok und Twitter. Denn trotz des schnellen Stopps der Liveübertragung fand diese genügend Publikum. Einige Zuseher fertigten Mitschnitte in Form von kurzen Clips und Screenshots an und verbreiten diese weiter. Und diese erreichen teilweise beträchtliche Userzahlen. In einem Fall ... soll ein Facebook-Posting, das einen Link zu einer Aufzeichnung enthält, 1,8 Millionen Mal aufgerufen worden sein."
Dem Vernehmen nach weiß Facebook nicht, "wie viele Betrachter tatsächlich der Weiterleitung zum Video folgten". Wieviel von dem, was Facebook-Manager wissen, sie öffentlich mitteilen, ist freilich eine andere Frage.
"Allein auf Facebook und Twitter sei die Aufnahme Hunderte Male geteilt worden, eine Kopie auf der Plattform Streamable wurde demnach drei Millionen mal angesehen. Anders als auf YouTube gibt es etwa auf Twitch so gut wie keine Hindernisse vor einem Livestream",
ergänzt heise.de. Vergleiche mit früheren Mordtaten etwa im deutschen Halle und im neuseeländischen Christchurch enthalten alle diese Berichte. Kein Wunder, vom Täter in Buffalo wurden sie im Vorfeld auch verglichen. Das Wissen über Möglichkeiten und Mechanismen, Inhalte online schnell zu verbreiten, bzw., so etwas möglichst zu verhindern, wird von allen Seiten aus unterschiedlichen Motive genutzt.
"Gezielt produziertes Propagandamaterial" der Täter, das sie auch in von ihnen so genannten "Manifesten" verbreiten möchten, nicht direkt zu zitieren, sei eines der Dinge, die klassische Medien vermeiden sollten, sagt Dittrich dann noch im DLF. Bekanntlich gibt es aber unterschiedliche Ansichten zur Frage, wem es hilft, Informationen, die anderswo im Internet schnell zu finden sind, wegzulassen. Der "Standard" sieht das offenkundig etwas anders.
Öffentlich-rechtliche Sehvolumen-Erhöhung
Ältere, etablierte Medien reagieren auf die pausenlos dynamischen Entwicklungen im Internet nicht immer schnell. Wenn sie sich einer sehr sicheren Finanzierung erfreuen können wie unsere öffentlich-rechtlichen schon gleich gar nicht. Dass neue Medien schnell riesig werden und oft Standards setzen, die dann im Prinzip für alle gelten, ist aber längst überall bewusst. So verstehen sich die Mediatheken von ARD und ZDF inzwischen ausdrücklich als Wettbewerber von Netflix und Co.
Dazu hat Leonhard Dobusch, das hier häufig erwähnte ZDF-Fernsehratsmitglied, den Leiter der Technologie-Abteilung in der ZDF-Hauptredaktion Digitale Medien, Andreas Grün, "um ein Interview über den aktuellen Entwicklungsstand in Sachen Empfehlungsalgorithmen gebeten". Natürlich wäre ZDF-Führungspersonal schlecht beraten, solche Bitten künftiger Verwaltungsrat-Mitglieder abzulehnen. Das Interview (netzpolitik.org) ist nicht sehr kritisch geführt, was ja aber auch nicht Dobuschs Aufgabe sein kann, doch interessant.
Man erfährt in der Einleitung, dass die ZDF-Mediathek "inzwischen über 3 Millionen registrierte Nutzer:innen, von denen sich rund 800.000 pro Monat mindestens einmal anmelden", habe. Dabei lässt sich die Mediathek ja auch unangemeldet nutzen. Oder sind sehr viele von den sehr, sehr vielen Krimis, die das ZDF laufend neu produziert, wiederholt und online ausspielt, altersbeschränkt?
Grün erzählt dann, dass das ZDF sich "mit Google oder auch AWS ... aktiv" und ohne "Berührungsängste" über Empfehlungsalgorithmen austausche, immerhin mit "klaren Leitlinien". Bei AWS handelt es sich um die höchstgradig profitable Cloud-Sparte des bereits erwähnten Mega-Datenkraken Amazon, die auch in Deutschland beste Geschäfte macht. Worauf es dem ZDF ankomme:
"Für die Mediathek ist das sogenannte Sehvolumen, also die Zeit, die Nutzer*innen bei uns verbringen, eine ganz entscheidende Währung. Gemessen daran haben die automatisierten Empfehlungen über die Jahre stark in ihrer Bedeutung zugenommen. Gerade in den nativen Apps auf Mobile und SmartTV sowie HbbTV nutzen viele Nutzer*innen den Weg über 'Das könnte Dich interessieren.' Auf diesen Plattformen kommen bis zu 50 Prozent des Sehvolumens über Empfehlungen auf der Startseite zustande."
Heißt: Die ZDF-Mediathek erhöht "Sehvolumen"/Verweildauer ihres Online-Publikums erfolgreich durch eigene Empfehlungen, so wie es Googles Youtube mit seinem so erfolgreichen wie umstrittenen Algorithmus ja auch tut. Doch bemühe sich das ZDF um Unterschiede, etwa:
"Recency Bias und Popularity Bias (es werden nur Inhalte gelernt und empfohlen, die ohnehin und vor allem in jüngster Zeit populär sind) gegenzusteuern, weil diese auch abträglich sind für die Vielfalt".
Nicht zuletzt die zahlreichen Anglizismen und Semi-Anglizismen ("Serendipität"), die der Techniker gerne verwendet, lassen ahnen, wie es hinter den Hochglanz-Oberflächen der Mediatheken zugeht. Was im Interview nicht zur Sprache kommt: ob die (beide ja in Mainz sitzenden) Mediatheken von ZDF und ARD bei ihrer Suche nach öffentlich-rechtlichen Empfehlungsalgorithmen bereits zusammenarbeiten, wie es ja vor knapp einem Jahr pompös ("Schatz an öffentlich-rechtlichen Qualitätsinhalten", "mehr als 250.000 Filmen, Dokumentationen, Satire- und Serienstoffen") verkündet worden war, oder ob doch erst mal die Sehvolumen-Erhöhung beim eigenen Publikum im Vordergrund steht.
Nichts Gutes zur globalen Medienfreiheit
Auch das ist eine dynamische Konstante: Im Inland sind die Probleme abstrakter und erheblich weniger existenziell als in immer mehr anderen Regionen der Welt. Das zeigte sich (Altpapier), als als die neue Weltkarte der Pressefreiheit veröffentlicht wurde, zeigt sich laufend und anhand weiterer Beispiele, die oft wenig Aufmerksamkeit abbekommen.
Über Journalismus in Syrien, weiter "eines der gefährlichsten Länder für Medienschaffende", in dessen Krieg weiterhin "mehr Journalist*innen ... als in bislang jedem anderen Konflikt weltweit" getötet wurden, das aber dennoch – oder wegen der Gefährlichkeit – aus dem Blickpunkt gerückt ist, berichtet Libanon-Korrespondentin Julia Neumann in der "taz".
Weiterhin Erwähnung verdient der Fall der Journalistin Shireen Abu Akleh (oder Akle, wie die Reporter ohne Grenzen den Namen transkribieren). Die Reporterin des katarischen Senders Al Dschasira, eine "christliche Palästinenserin, die auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß", war vergangene Woche "in einem Feuergefecht zwischen israelischen Soldaten und Palästinensern" beim Berichten erschossen worden. Beide Seite gaben und geben sich gegenseitig die Schuld. Der Fall reiht sich "nahtlos ein in das Muster dieses ewigen Konflikts: Solange jede Seite ihre Wahrheit verkünden oder die der anderen Seite anzweifeln kann, scheinen beide zufrieden zu sein", kommentierte "SZ"-Korrespondent Peter Münch dazu. Zur "unabhängigen internationalen" Untersuchung der Umstände ihres Todes, die ROG/RSF fordern, hinzu kommen soll auch eine Untersuchung "zum brutalen Einschreiten der Sicherheitskräfte bei der Beerdigung" Aklehs/Akles in Jerusalem, berichtet die "SZ" nun. Bei der Beerdigung hatte es "würdelosen Szenen" gegeben, "Videos zeigen, wie israelische Einsatzkräfte mit Schlagstöcken und Tränengas gegen den Trauerzug vorgehen, bis der Sarg den Trägern entgleitet und fast zu Boden stürzt", schrieb Dunja Ramadan in einem größeren Nachruf auf Akleh. Dass diese Videos auf Youtube zu finden sind, muss hier sicher nicht erwähnt werden ...
Ein inzwischen physisch, noch nicht aber verwaltungstechnisch nach Deutschland gekommenes Medienfreiheits-Problem beleuchtet dann noch der "Spiegel" (€):
"Mehrere Dutzend russische Intellektuelle stehen mittlerweile auf einer Liste von Claudia Roth (Grüne), Staatsministerin für Kultur und Medien im Kanzleramt. ... Den Großteil machen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des unabhängigen russischen Senders Doschd und des Internetmagazins 'Meduza' aus. Deutsche Visa für längerfristige Aufenthalte zu bekommen ist noch immer mit erheblichen bürokratischen Hürden verbunden. Sie müssen in den deutschen Auslandsvertretungen beantragt werden ...",
die es im deutschen Inland naturgemäß gar nicht gibt. Die auch hier involvierten ROG/RSF vermuten Kabbeleien zwischen Bundesaußen- und -innenministerium, während die die prozedural nicht, aber inhaltlich auch mit dem Thema befasste Kultur-/Medienstaatsministerin plane, "Berlin zu einem Zentrum der demokratischen russischen Gegenöffentlichkeit zu machen".
Was in dann auch noch Aufmerksamkeit verdient, gerade auch der Grünen, ist ein Fall, in dem es jenseits des schleppenden prozedural-bürokratischen Verlaufs seit Jahren leider nichts Neues gibt, obwohl er sich in einem der Herzen des sog. Westens abspielt: Ab heute
"kann die britische Innenministerin Priti Patel anordnen, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange von Großbritannien an die USA ausgeliefert werden soll. An diesem Tag läuft eine vierwöchige Frist ab, während der Assanges Verteidigung neue Gründe gegen die Überstellung vorbringen kann. Reporter ohne Grenzen ... fordert Innenministerin Patel mit einer Petition auf, die Auslieferung zu stoppen",
und die umtriebigen ROG/RSF werden diese Liste außer in London im Rahmen einer unentwegten "symbolischen Bildaktion" zugleich auch in Berlin sowie weiteren Hauptstädten der britischen Botschaft überreichen.
Altpapierkorb (Joffe / "Zeit", Ladekabel-Gesetz, Chatkontrolle, Gotha freut sich, Qualitätszwiebelung)
+++ Gibt es den Begriff "Alpha-Journalist" noch? Na ja, Josef Joffe, der "zur Riege der deutschen Alpha-Journalisten" gehöre, begann seine Laufbahn ja noch deutlich im vergangenen Jahrtausend. Nun ist er bei der "Zeit" "nur noch ein Herausgeber auf Abruf", schreibt Christian Meier in der "Welt". Womit der vom "Spiegel" und dem Investigativreporter Oliver Schröm publik gemachte Fall von "Redaktionsgeheimnisverrat" (Altpapier neulich) im Zusammenhang der langwierigen wie brisanten Cum-Ex-Enthüllungen rasch zu einer harten Konsequenz führte.
+++ "Ein Beispiel dafür, wie die EU endlich Gesetze schafft, um technische Entwicklung ökologisch nachhaltiger zu gestalten", nennt netzpolitik.org die Ladekabel-Gesetzgebung, der sich sogar der Apple-Konzern fügen müssen werde. +++ Weiter auf dem Weg durch die Gesetzgebung gekommen, nämlich im Binnenmarktausschuss des EU-Parlaments, ist der so ambitionierte umstrittene Digital Markets Act der EU ("Standard").
+++ Weiter zu den erst recht umstrittenen EU-Plänen zur "Chatkontrolle" (zuletzt gestern im Altpapier) recherchiert, oder zumindest im 134-seitigen Gesetzesentwurf, "der mit Allgemeinplätzen, teils irreführenden Behauptungen und Querverweisen auf 134 Seiten aufgeblasen wurde", gelesen hat Erich Moechel vom ORF-Radio FM 4. Sein (Text-)Beitrag ist lesenswert, schon weil er mit markierten Zeilen aus den ausführlichen, englischsprachigen EU-Formulierungen arbeitet. Eine Erkenntnis: "Software-Anbieter wie App-Stores werden genauso in die Pflicht genommen wie Gaming-Plattformen, die zu den Spielen auch die Möglichkeit zum Chatten bieten. Auch Anbieter von Internetzugängen und Cloud Provider müssen sich auf sogenannte 'Detection orders' vorbereiten, die von einer neu zu schaffenden EU-Behörde, die schlicht 'EU-Centre' genannt wird, ausgegeben werden."
+++ "Das in seinen Dimensionen vielleicht schiefe, aber sofort eingängige Bratwurst-Bild wurde jedenfalls, was mediale Wirksamkeit angeht, ein letzter Coup. Nur wird zu der Einschätzung, es gebe gar keine schlechte PR, in diesem Fall wohl niemand gelangen (außer vielleicht dem Bürgermeister von Gotha, der sich, wie berichtet wird, auf weitere PEN-Tagungen freut, weil seine Stadt noch nie so präsent in den Medien gewesen sei) ...": Da bereitet das FAZ-Feuilleton (€) die spektakuläre PEN-Club-Tagung, um die es ebenfalls gestern hier ging, weiter nach. +++ Und kann unten drunter mit einer weiteren, durchaus prominenten Austrittserklärung "mit sofortiger Wirkung" aufwarten!
+++ Auch interessant: was dwdl.de über die Einschaltquoten von (sowohl zeitversetzt zusammengefasstem als auch live gesendetem) deutschem Liga-Fernsehfußball der nun endenden Saison zusammenträgt.
+++ Und dann hat "epd medien" mal was gemacht, was der traditionsreiche Mediendienst in seinem kargen Internetauftritt zu selten tut: ins tiefe Archiv gegriffen. Hier zu lesen ist ein Interview von 2007 mit (dem kürzlich verstorbenen) Hans Janke. "Ich würde immer sagen, lasst uns die Qualität hochzwiebeln, also der ältlichen Konvention, dieser schrecklichen Treuherzigkeit entkommen, aber durchaus beim Bewährten bleiben", sagte Janke da etwa. Wohin das ZDF in den vergangenen fünfzehn Jahren die Qualität zwiebelte, liegt teilweise sicher im Auge der Betrachter. Aber dass die, äh, Serendipität im linearen Programm früher deutlich größer war, dürfte außer Frage stehen.
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.
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