03.05.24 | Halle "Ich wünsche mir sehr, dass so etwas nie wieder passiert!"
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Emotionale Dialogveranstaltung über "Tripperburgen" in Halle
16. Mai 2024, 13:26 Uhr
Viele Jahre totgeschwiegen, drängt das Thema seit gut zehn Jahren mit aller Macht an die Öffentlichkeit: Zwischen 1961 und 1989 wurden tausende Frauen und Mädchen ab dem 12. Lebensjahr wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten wochenlang in Kliniken der DDR eingesperrt. In diesen geschlossenen venerologischen Stationen – im Volksmund "Tripperburgen" genannt – wurden sie täglich gegen ihren Willen gynäkologisch untersucht und misshandelt. Dabei waren die meisten der zwangseingewiesenen Frauen und Mädchen völlig gesund. Ziel der brutalen Maßnahmen: Die Frauen sollen laut Hausordnung der Kliniken isoliert und zu "sozialistischen Persönlichkeiten" erzogen werden.
Harter Stoff für die Dialogveranstaltung am vergangenen Freitag (3. Mai 2024) im Puschkinhaus in Halle und für das überwiegend weibliche Publikum auch schwer zu ertragen. Moderatorin Beatrice Schwartner trifft genau den richtigen Tonfall – zwischen Berührtheit und journalistischem Timbre – und spricht in zwei Panels mit Betroffenen wie Angelika B., die immer noch unter dem Trauma leidet, aber auch mit Expertinnen. Zum Beispiel mit Birgit Neumann-Becker, der ehemaligen Landesbeauftragten von Sachsen-Anhalt, über die politische Aufarbeitung und Möglichkeit der Entschädigung, sowie mit Juliane Weiß von der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, warum die Aufarbeitung so wichtig ist.
Erschütternde Einblicke in die "Tripperburgen"
Nach der Doku "Trauma `Tripperburg´– Gewalt gegen Frauen in der DDR" (Regie: Elisa Scheidt, Redaktion: Nora Große Harmann und Anaïs Roth) führt der am 30. April erschienene Podcast "Diagnose: Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg" (Autorinnen: Charlotte Witt und Ann-Kathrin Canjé, Redaktion: Amelie Hüsni und Andrea Besser-Seuß), der von MDR next gefördert wird, noch tiefer hinein in die Materie. "Ich freue mich riesig, dass aus der Idee, die von Charlotte Witt und Ann-Kathrin Canjé bei MDR next gepitcht wurde, dieser spannende und wichtige Podcast entstanden ist", erklärt Christoph Rieth, Leiter von MDR next, am Rande der Veranstaltung. Das Projekt ist gelungen – nicht zuletzt wegen der intensiven Interviews und der außergewöhnlichen Musik.
Soundtrack eigens kompominiert
Die DJs Judith van Waterkant und Stephan Witzovsky haben gemeinsam den eindrücklichen Soundtrack dafür komponiert, der von den MDR-Ensembles zum Leben erweckt wurde. MDR-Rundfunkchor-Sängerin Lena Bendzulla erzählt, mit wie viel Verve sich die Sängerinnen und Streicher in die Umsetzung des Projektes gestürzt hatten. Diese atmosphärische Untermalung fesselte auch Sabine K., die sich neben der Doku auch für dieses Projekt weit geöffnet hat: "Ich habe ihn in drei Stunden durchgehört und da war ich so fertig. Diese ganze Atmosphäre und die Musik – das war heftig! Da brauchte ich erst einmal ein bisschen, das zu verarbeiten."
Teilnehmer zu Tränen gerührt
Beim anschließenden get together läuft Besucherin Maria, die während der Veranstaltung zu Tränen gerührt war, Sabine K. und ihrer Tochter direkt in die Arme: "Ich bin froh, dass ich ihr meine Hochachtung aussprechen und mich bedanken konnte. Und ich habe da auch noch etwas erfahren, was mich sehr beschäftigt hat, ich aber nicht in der großen Runde fragen wollte. Für mich ist der Abend richtig rund geworden dadurch. Toll, dass es so ein Format hier gibt!"
Auch Besucherin Laura zeigt sich aufgewühlt und hofft, dass niemand aus ihrer Familie in einer der geschlossenen venerologischen Stationen eingesperrt war: "Ich finde es unfassbar, was auch heute noch immer wieder zu Tage kommt. Nicht nur in der DDR, auch in der BRD sind viele Sachen schiefgelaufen. Das ist sehr berührend, zu erfahren, was den Frauen da widerfahren ist und ich wünsche mir sehr, dass so etwas nie wieder passiert und der heutige Feminismus etwas dazu beiträgt."
Reden als wichtiger Schritt für die Aufarbeitung
Die anwesenden Vertreterinnen der Opferverbände betonen einvernehmlich, wie wichtig es ist, dass der MDR so wichtige Themen angeht und hätten gern mehr von solchen Projekten und auch solchen Dialogformaten, denn der Austausch ist genau das, was die Betroffenen bräuchten, meint Anne Kupke-Neidhardt vom Zeitgeschichte(n) Verein e.V. Halle. Das Reden darüber ermutige auch andere Betroffene sich zu melden und das sei ein wichtiger Schritt für die Aufarbeitung. "Zu merken, dass unser Format nicht nur informiert, sondern auch berührt und Anstoß geben kann, sich zu vernetzen und zu engagieren – das macht uns im Team unheimlich stolz", resümiert Amelie Hüsni von MDR next.