Was das große Coming Out in der ARD-Doku bewirkte Und sie bewegt sich doch?
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27. Mai 2024, 11:02 Uhr
Mehr als 100 deutsche Katholikinnen und Katholiken haben sich in der ARD-Doku "Wie Gott und schuf" vor zwei Jahren als nicht-heterosexuell geoutet. Bis dahin Grund genug für eine Kündigung durch kirchliche Arbeitgeber. Was danach passierte und was das Coming Out bewirkt hat, zeigt der zweite Teil der Doku von Katharina Kühn und Hajo Seppelt, die jetzt in der ARD-Mediathek zu sehen ist. Genauso wie ein ausführliches Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing. Eine Bilanz.
Als sie sich vor gut zwei Jahren outeten, wussten sie nicht, welche Konsequenzen das für sie haben würde: In der ARD-Dokumentation "Wie Gott uns schuf" machten mehr als 100 Menschen katholischen Glaubens ihre Homosexualität oder Geschlechtsidentität öffentlich und lösten damit eine bundesweite Debatte aus. Zeitgleich startete die Reforminitiative #OutInChurch mit der Forderung, endlich die arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu reformieren, so dass in einer homosexuellen Partnerschaft lebende Menschen keine Kündigung durch ihre kirchlichen Arbeitgeber mehr fürchten müssten.
Nach dem Coming Out: "Das ist kaum in Worte zu fassen"
Aus Angst davor hatten beispielsweise Marie Kortenbusch und Monika Schmelter aus Nordrhein-Westfalen ihre Liebe mehr als 40 Jahre geheim gehalten. Schmelter war lange in leitender Position bei der Caritas tätig, Kortenbusch als Religionslehrerin an einer Ordensschule. Neben einer Kündigung drohte ihnen der Verlust der kirchlichen Altersversorgung. Sie wagten dennoch den Schritt in die Öffentlichkeit, ein Jahr später sprechen sie im zweiten Teil der ARD-Doku "Wie Gott uns schuf – Nach dem Coming out" vom überwältigenden Gefühl einer großen Befreiung. "Das ist kaum in Worte zu fassen", sagt Schmelter. "Ich kann freier atmen, Gedanken, Erinnerungen, Gefühle sind ins Fließen gekommen", meint Kortenbusch.
Ein Gefühl, das andere Betroffene teilen: Priester, Ordensbrüder, Bistums-Mitarbeitende, Pädagoginnen oder Sozialarbeiter berichteten 2022 wie Kortenbusch und Schmelter über ihr jahrzehntelanges Versteckspiel und Doppelleben, vor allem aber auch über Einschüchterungen, Denunziationen und tiefe Verletzungen. Nun erzählen sie, was sich nach dem Coming out für sie verändert hat. Einige, die sich 2022 nur anonym äußern wollten, treten im zweiten Teil der Doku mit ihrem Gesicht vor die Kamera. Etwa der Priester Christoph Konjer, der sich mit Anfang 40 erstmals auch seiner Mutter offenbarte. Es ist einiges ins Fließen gekommen, nicht nur emotional.
Reform des kirchlichen Arbeitsrechtes und Paradigmenwechsel
Seit 2023 gilt in allen deutschen katholischen Bistümern ein neues kirchliches Arbeitsrecht, wonach queeren Mitarbeitenden nicht mehr wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität, heißt ihrer privaten Lebensführung gekündigt werden darf. Bis zum Schluss haben sich konservative Bischöfe dagegen gewehrt, am Ende stimmten alle zu, wie Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, betont. Er spricht von einem "Paradigmenwechsel" und stellt zur sogenannten neuen Grundordnung fest:
Private Lebensverhältnisse – und dazu zählt die sexuelle Identität und die sexuelle Orientierung – unterliegen nicht einer rechtlichen Bewertung.
Keiner der 100 Protagonisten der Doku hat seinen Job verloren, was nicht heißt, dass nun alles geregelt ist. Religionslehrer Theo Schenkel fühlt sich als Transmann seinen Kollegen immer noch nicht gleichgestellt. Christoph Konjer hat seine Gemeinde auf eigenen Wunsch für eine Auszeit verlassen: Er hat mehr verdrängt als seine Homosexualität, wird in der Doku deutlich. Mit Blick auf die Missbrauchsskandale sagt Konjer, es herrsche immer noch eine Deckmantel-Mentalität in der katholischen Kirche. Ob er noch Teil dieser Institution sein wolle, müsse er nun ausloten. Andere haben der katholischen Kirche unwiderruflich den Rücken gekehrt.
Ringen um neue Sexualmoral: "Für einige ist es schon unangenehm, dass ich da bin"
Andere wollen in der Kirche weiter um Reformen kämpfen. Der Initiative #OutInChurch haben sich inzwischen mehr als 500 Menschen angeschlossen, sie haben sich als Verein organisiert, um so besser ihre Forderungen für eine angst- und diskriminierungsfreie Kirche vertreten zu können. Dafür macht sich beispielsweise Mara Klein aus Sachsen stark. Sie hat Theologie auf Lehramt studiert und engagiert sich schon länger für den Synodalen Weg, den Reformprozess der katholischen Kirche, als einzige offen diverse Person. Klein sieht sich weder als Frau noch als Mann und passt damit nicht in die kirchliche Geschlechterordnung. Schon ihr Auftreten ist ein Statement, wenn nicht Provokation: "Für einige ist es schon unangenehm, dass ich da bin. Sie können halt nicht mehr sagen: 'Davon habe ich nichts gewusst, das ist mir komplett neu.' Sie können nicht mehr so tun, als wüssten sie nicht, dass da richtig Menschen dranhängen. Das ist das Herausfordernde daran."
Bischof Bätzing betont "Schöpungsordnung"
Bätzing kommentiert im ARD-Interview: "Ich habe den Eindruck, die Ängste davor, etwas zu verändern, rühren tatsächlich daher, dass man mit der Lebenswirklichkeit nicht gut genug in Verbindung ist. Das hat viel mit Angst vor etwas Fremdem zu tun. Ich erinnere mich an die Synodalversammlung, wo ein Bischof ehrlich gesagt hat: 'Für mich sind das auch neue Lebenswelten, mit denen ich lange Zeit nie in Berührung gekommen bin.'" Bätzing selbst stellt dazu im ARD-Interview fest: "alle Menschen, egal wie sie leben, empfinden oder geschaffen sind, Geschöpfe Gottes sind. Und was geschaffen ist, ist gut." Auf Nachfrage fügt er hinzu: "Ich bin überzeugt, die Zweigeschlechtlichkeit gehört zur Schöpfungsordnung, ist biologisch angelegt. Mann und Frau sind die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft."
Letzte Entscheidung in Rom?
Anders als oft betont, liegt die letzte Entscheidung über eine neue Sexualmoral wohl nicht nur in Rom. Dass Homosexualität nach der offiziellen Lehrmeinung im Vatikan weiter eine Sünde ist und Trans- oder Non-binäre Menschen nicht vorgesehen, daran hat sich mit dem Coming Out noch nichts geändert. Doch es ist was ins Fließen gekommen, wie die Abstimmung über eine Beschlussvorlage zur geschlechtlichen Vielfalt in der katholischen Kirche in Deutschland im März 2023 zeigte: 95 Prozent stimmten dafür.
Stichwort: "Wie Gott uns schuf"
Für die ARD-Doku "Wie Gott uns schuf" hat der Journalist Hajo Seppelt fast zehn Jahre lang recherchiert. Die Dokumentation lässt Priester, Ordensbrüder, Gemeindereferentinnen, Bistums-Mitarbeitende, Religionslehrende, Kindergärtnerinnen, Sozialarbeiter und andere zu Wort kommen. Inzwischen wurde sie mit dem Katholischen Medienpreis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem "Stern"-Preis als "Geschichte des Jahres" ausgezeichnet.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 23. Mai 2024 | 22:40 Uhr