9. März 1972: Sensation in der Volkskammer Selbstbestimmung der DDR-Frau: Als die Abtreibung legal wurde
Hauptinhalt
16. April 2024, 12:30 Uhr
Es war ein langer Weg zur Selbstbestimmung für die Frauen der DDR. Seit Ende 1971 bereiteten politische Verantwortungsträger ein Gesetz "über die Unterbrechung der Schwangerschaft" vor. Am 9. März 1972 wurde es dann von der Volkskammer beschlossen und trat in Kraft. Es ist das erste Mal, dass Frauen selbst über den Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden dürfen.
Als die Volkskammer der DDR am 9. März 1972 das "Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft" verabschiedete, kam dies einer Sensation gleich: Mit 14 Gegenstimmen aus der CDU-Fraktion und acht Enthaltungen war es die einzige Abstimmung in der Geschichte des DDR-Parlaments vor der Wende 1989, die nicht einstimmig erfolgte - was in westlichen Medien entsprechend gewürdigt wurde.
Vor allem aber stellte der Inhalt des Gesetzes weltweit ein Novum dar. Erstmals übertrug es der Frau das Recht, innerhalb von zwölf Wochen nach Beginn einer Schwangerschaft eigenverantwortlich über deren Abbruch zu entscheiden. Bis dahin oblag es einer Kommission, unter Maßgabe bestimmter Indikationen über eine Abtreibung zu entscheiden.
Selbstbestimmung als "Geschenk" zum Frauentag
Das als eine Art "Frauentagsgeschenk" präsentierte Gesetz fiel in eine Zeit umfassender Rechtsreformen nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker, der Frauen und besonders berufstätige Mütter zu Hauptadressatinnen seiner Sozialpolitik machte. Zudem antwortete es auf zunehmende Forderungen der Frauen nach mehr Selbstbestimmung, die gerade im medizinischen Bereich durch ihren wachsenden Anteil innerhalb der Ärzteschaft lauter wurden.
Obwohl das Thema Abtreibung in der DDR ein Tabu war - und auch nach dem Gesetz noch lange blieb - war allgemein bekannt, dass viele Frauen diese illegal durchführen ließen oder gar selbst Hand anlegten. Bei dieser gefährlichen Praxis starben offiziell jährlich etwa 70 bis 80 Frauen, die Dunkelziffer war jedoch weitaus höher.
Reaktionen auf das neue Abtreibungsgesetz der DDR
Dennoch regte sich ein schwacher Protest gegen die neue Regelung in kirchlichen Kreisen. Schon nach Bekanntgabe des Gesetzentwurfs hatte die katholische Kirche sich in einem von allen Kanzeln verlesenen Hirtenbrief vehement für den Schutz menschlichen Lebens durch den Staat ausgesprochen. Wenig später wurde in einem "Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der DDR" Ablehnung und "tiefste Bestürzung" geäußert. Freikirchliche Gruppierungen schlossen sich an, doch blieben all diese Einwände marginal. Auch seitens eines Teils der Ärzteschaft geäußertes Unbehagen führte nicht zu einer öffentlichen Debatte.
Zeitzeuginnen berichten, dass das medizinische Personal den Eingriff anfangs oft nur widerwillig durchführte. Kirchlichen Krankenhäusern blieb es gar vorbehalten, ihn abzulehnen, wovon sie in den meisten Fällen Gebrauch machten.
Von der Ausnahme zum Routine-Eingriff
Dennoch wurde die "Schwangerschaftsunterbrechung" - wie es fälschlicherweise hieß - mit den Jahren zur Normalität. In fast allen Krankenhäusern der DDR gab es Spezialabteilungen, die den Eingriff geradezu fließbandartig vornahmen. Denn die Zahl der Abtreibungen war nach 1972 tatsächlich sprunghaft angestiegen, wie eine Untersuchung für den Bezirk Gera belegte: Nach ca. 1.000 im Jahr 1971 waren es 1973 knapp 5.000. Landesweit kamen zwischen 1972 und 1986 auf 100 Lebendgeburten 47 Abtreibungen. Bis zum Ende der 80er-Jahre wurde in der DDR jede dritte Schwangerschaft abgebrochen.
Die kostenlose Abgabe der Pille, die das Gesetz von 1972 ebenfalls vorschrieb, tat ein Übriges, um die Geburtenrate dramatisch sinken zu lassen: In Gera innerhalb kürzester Zeit um 22 Prozent, insgesamt lag sie 1975 nur noch bei 52,3 Geburten auf 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter.
Beratung ist in der DDR die Ausnahme
Eine 1979/80 in zahlreichen Frauenkliniken durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, der Umgang mit dem Gesetz sei "sehr verantwortungsbewusst". Es werde hauptsächlich von Frauen in Anspruch genommen, die schon Kinder - und zwar mehr als der Bevölkerungsdurchschnitt - hätten.
Zugleich wurde bemängelt, dass die im Gesetz ebenfalls ausdrücklich vorgeschriebene Beratungspflicht des Arztes durch die regelrechte Massenabfertigung aus Zeitgründen zumeist vernachlässigt werde. Anstatt ein Gespräch mit der Schwangeren über Alternativen, mögliche soziale Maßnahmen und eine künftige Empfängnisverhütung zu führen, wurde oft schon beim ersten telefonischen Kontakt ein Termin für den Eingriff vergeben.
Diese unbefriedigende Situation wurde nun auch in Fachgremien thematisiert. Der Arbeitskreis "Ethik in der Medizin" forderte 1985, künftig auch die Würde des "unerwünschten werdenden Lebens" stärker zu berücksichtigen.
Roman entfacht öffentliche Debatte
Einen ersten – wenn auch nur in Nischen geführten – Disput löste genau zehn Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes Charlotte Worgitzkys sehr offener und teils schockierender Roman "Meine ungeborenen Kinder" aus. Dabei wurde von Frauenseite argumentiert, das Problem seien weniger die Schwangerschaft als vielmehr die vielen Jahre danach und die Doppelbelastung der Frau durch Erwerbs- und Familienarbeit.
Durch zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen wie der Einführung des "Babyjahres" und eine reduzierte Wochenarbeitszeit für Mütter stabilisierte sich die Geburtenrate zum Ende der DDR trotz legalem Schwangerschaftsabbruch wieder, bereits 1979 gab es wieder mehr Geburten als Sterbefälle. Wirklich aufgearbeitet wurde das Problem der Abtreibung in der DDR jedoch bis heute nicht.
Der Artikel war erstmals 2012 online.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise - Frauen, Plan- und Männerwirtschaft | 07. März 2021 | 22:20 Uhr