Reportage Zweite Chance Seehaus: Jugendstrafvollzug in Familie
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12. Juni 2021, 12:10 Uhr
Familie Steinert – das sind Franz und Steffi und ihre drei Kinder Lina, Jona und Malu. Aber das sind nicht alle Familienmitglieder. Dazu gehören noch drei jugendliche Strafgefangene, mit denen sie gemeinsam unter einem Dach im Seehaus wohnen: Jugendstrafvollzug in freier Form, Familienleben statt Gefängnis, so heißt das von der Diakonie getragene Projekt am Hainer See bei Leipzig. Hier gibt es keine Zäune, keine verschlossenen Türen, aber Hilfe von den Steinerts, Pädagogen, Ausbildern – als Vorbereitung auf ein Leben nach der Haft.
Als ich mich auf die Suche nach einem Thema für meine Abschlussreportage als Volontärin beim MDR gemacht habe, bin ich auf viele interessante Menschen mit spannenden Geschichten und Lebensentwürfen gestoßen. Aber nichts hat meine Neugier von Anfang an so geweckt wie das Seehaus: Jugendstrafvollzug in freier Form, das ist die offizielle Bezeichnung für das von der Diakonie Leipziger Land getragene Projekt am Hainer See. Hier leben derzeit sieben Strafgefangene zusammen mit zwei Familien.
Gemeinsam den Tag beginnen ...
Auf Zeit werden sie eigentlich sogar ein Teil der Familie, wie Steffi und Franz Steinert es wohl formulieren würden. Sie übernehmen als Hauseltern sozusagen die Mutter- und Vaterrolle für die jungen Männer. Wegen Körperverletzung, Diebstahl oder Sachbeschädigung waren viele von ihnen vorher im Gefängnis.
Im Seehaus lernen sie als erstes, sich an einen geordneten Tagesablauf zu halten.
Das Besondere am Seehaus aus Sicht der Jungs ist, glaube ich, im Gefängnis zu sitzen und zu hören, da gibt es einen Ort ohne Gitter und Gefängnismauern.
Das heißt: Morgens aufstehen und zusammen frühstücken, gemeinsames Kochen, sich mit den kleinen Kindern der Familie Steinert beschäftigen und abends zusammen das "Sandmännchen" im Fernsehen anschauen.
Es sind diese einfachen Rituale, die den jungen Männern den Einstieg in ein neues Leben nach der Haftentlassung erleichtern sollen.
Die Steinerts werden derzeit von Amelie unterstützt. Sie absolviert ihren Bundesfreiwilligendienst im Seehaus. Dabei arbeitet sie eng mit Steffi und Franz zusammen. Überhaupt scheinen sie alle ein eingespieltes Team zu sein und und geben sich bei der Hausarbeit gekonnt die Klinke in die Hand.
Mal macht Steffi die Kinder für die Schule fertig, während Franz die Strafgefangenen am Morgen in der Familien-WG begrüßt. Danach bringt Franz die Kinder in die Schule und Steffi frühstückt mit den "jungen Männern", so werden sie im Seehaus genannt, bevor sie sich auf den Weg machen. In einer Berufsschule auf dem Gelände können sie ihren Hauptschulabschluss nachholen oder in den Bereichen Holz und Bau eine Ausbildung beginnen.
Wir versuchen hier ein Stück weit, Lücken zu füllen. Wir wollen den Jungs zeigen, dass sie hier so sein dürfen wie sie sind, aber eben auch mit der Offenheit, an sich selbst zu arbeiten.
... und sich kümmern lernen
Meine drei Drehtage im Seehaus waren alles andere als langweilig. Nach einem Corona-Test übernachteten auch wir im Seehaus, um nicht jeden Tag neu anreisen zu müssen, was ein zu großes Risiko für die Wohngemeinschaft dargestellt hätte.
Wem es im Haus zu eng wird, der kann vor die Tür und die Weite der Landschaft am Hainer See genießen.
Ich hab mich schon oft gefragt, wo soll ich jetzt noch die Kraft herholen, aber die Sinnfrage kam noch nie. Es gibt so viele 'Baustellen'. Das hat seinen Reiz. Die Jungs können natürlich auch ganz gut austeilen, das auszuhalten und gute Strategien zu finden, damit umzugehen, das ist durchaus herausfordernd. Schwer wird es vor allem, wenn so eine Intensität von Konflikten da ist, dass wir uns entscheiden haben, jemanden zurückzuschicken, das dann in die Tat umzusetzen, sich zu verabschieden. Das ist schon sehr emotional herausfordernd und der Weg dahin, der ist oft sehr kräftezehrend.
Seit kurzem gibt es schottische Hochlandrinder auf dem Seehaus-Gelände. Die jungen Männer bauten eine Tränke für die Tiere und kümmern sich neben anderen Mitarbeitenden auch darum, die Rinder mit Wasser und Futter zu versorgen. Sich kümmern, das lernt man im Seehaus. Dass das Spaß machen kann, war zu spüren, auch bei den nervenaufreibenden Kicker-Partien, die sich der kleine Jona und die jungen Männer geliefert haben. Am Ende breitete sich nicht nur bei uns Abschiedsstimmung aus. Für einen der drei Strafgefangenen war die letzte Woche im Seehaus angebrochen. Er erzählte mir von seinen Plänen; von Dresden und auch von den Drogen weg nach Kassel zu gehen, in einem Werkstatt-Team als Zweiradmechaniker zu arbeiten. Dabei war zu spüren, wie eng die Bindung an die Hauseltern-Familie für ihn geworden war. Beim Abendbrot gab es sein Lieblingsessen. Anschließend saßen alle beisammen und schauten sich Fotos von der gemeinsamen Zeit im Seehaus an.
Familie auf Zeit und mehr
Für viele der Jungs ist das Seehaus eine zweite Chance und vielleicht auch ihre letzte. Am Anfang hatte der Verein durchaus Gegenwind von einigen Anwohnern, die in weiterer Entfernung vom Seehaus wohnen, aber die Gemeinderäte der umliegenden Ortschaften stimmten am Ende für die Ansiedlung des Seehauses am Hainer See. Bis heute bekommen die Mitarbeiter rund um das Seehaus viele positive Rückmeldungen von den Anwohnern.
Die Steinerts dabei begleiten zu dürfen, wie sie ihr Familienleben und ihre Privatsphäre mit den Jungs so selbstverständlich teilen, war eine schöne Erfahrung und eigentlich reichen 15 Minuten Film vielleicht nicht aus, um das Ausmaß der Arbeit, die hinter und im Seehaus steckt, zu zeigen. Respekt verdient das Engagement der Familie und der Mitarbeitenden, aber auch die Bereitschaft der jungen Männer, sich auf diese Erfahrung einzulassen. Die Steinerts haben übrigens zu fast allen ihren Jungs noch Kontakt. Auch die Kinder der Steinerts schicken hin und wieder mal eine Sprachnachricht an die "ehemaligen großen Brüder".
Die Kinder sind eigentlich unsere allerbesten Mitarbeiter, weil sie die Jungs unvoreingenommen nehmen wie sie sind und sagen: 'Hey du bist jetzt da, was ich kann ich denn mit dir machen.'
Hinter der Geschichte: Das Seehaus-Projekt
Seit 2011 gibt es den Seehaus e.V. in Leipzig. Träger des Projektes ist die Diakonie Leipziger Land. So spielt der christliche Glaube im Alltag eine Rolle, beispielsweise beim Morgenimpuls. Im Moment leben sieben Strafgefangene zusammen mit zwei Familien am Hainer See. Auch pädagogische Mitarbeitende und Leute aus der Verwaltung kümmern sich vor Ort. Außer in Sachsen gibt es in Baden-Württemberg ein weiteres ähnliches Projekt für Jugendliche und Heranwachsende zwischen 14 und 27 Jahren mit günstiger Sozialprognose, wie es heißt. Angeschlossen sind Ausbildungsbetriebe in den Bereichen Schreinerei, Zimmerei/Bau, Metall sowie Garten- und Landschaftsbau.
Am Anfang hatte der Verein mit seinen Neubauplänen am Hainer See durchaus Gegenwind, ein Bürgerentscheid 2015 stellte alles in Frage. Doch die Gremien genehmigten den Bau in Einzellage und inzwischen gibt es positive Rückmeldungen für das Projekt, das mit Transparenz die Stimmung drehte.
Die Steinerts wurde von einem Freund durch eine Anzeige auf das Projekt aufmerksam. Steffi Steinert hatte vorher als Arzthelferin gearbeitet, Franz Steinert hatte Politikwissenschaften in Leipzig studiert und an der Universität gearbeitet. Seit acht Jahren sind sie nun Hauseltern. Rund 50 junge Männer haben die beiden schon begleitet. Während der Haft im Gefängnis können sich die Jugendlichen um einen Aufenthalt im Seehaus bewerben. Die Familie wählt ihre neuen Mitbewohner dann nach einem persönlichen Gespräch selbst aus. Nicht jeder Bewerber darf umziehen – ausgeschlossen sind Sexualstraftäter. Die Freiheit im Seehaus ist relativ. Es gibt zwar keine Zäune, doch der Tagesablauf ist straff durchgeplant. Nicht jeder hält durch.
Der gemeinnützige Seehaus-Verein ist im Bereich der Jugendhilfe, aber außerdem auch der Kriminalprävention und Opferhilfe tätig.
Die Reportage von Friederike Franke läuft in der Reihe mit den Volo-Abschlussfilmen unter dem Motto NORMsprenger:in im MDR-Fernsehen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 12. Juni 2021 | 18:00 Uhr