"Verbrechergruppe: § 175" Wie der "Schwulen-Paragraf" bis heute nachwirkt
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30. Juli 2021, 14:54 Uhr
Eingeführt in der Kaiserzeit und verschärft von den Nazis kriminalisierte der Paragraf 175 Sex zwischen Männern als "widernatürliche Unzucht", die mit Gefängnis zu bestrafen sei. Immer mit dem Segen der Kirche, die Schwulsein als Sünde geißelte. Daran änderte sich im Westen Deutschlands auch nach 1945 nichts, während die DDR den Paragrafen 175 früh entschärfte und 1968 ganz abschaffte. Die Dokumentation von Marco Giacopuzzi lässt Zeitzeugen und Aktivistinnen zu Wort kommen, die deutlich machen, wie weit der Weg war über Verfolgung und Ausgrenzung bis hin zur "Ehe für alle" heute. Dass dieser Weg direkt vom KZ ins nächste Gefängnis führen konnte, zeigt der Spielfilm "Große Freiheit", der gerade in Cannes Premiere feierte.
Aus dem KZ direkt ins nachkriegsdeutsche Gefängnis: Dieses unglaubliche Schicksal eines Homosexuellen zeigt der Kinofilm "Große Freiheit", der gerade bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere feierte.
"Die Geschichte wirkt in uns"
Franz Rogowski spielt darin Hans, der den größten Teil seines Lebens aufgrund des sogenannten "Schwulen-Paragrafen" hinter Gittern verbringt, ohne dass dies ihm die innere Freiheit nehmen kann.
Kein Einzelfall, sondern eine exemplarische Geschichte, wie Rogowski betont:
Die Generation unserer Eltern hatte noch Angst vor Schwulen, weil ihnen beigebracht wurde, dass Schwulsein kriminell ist.
Auch wenn man heute in Deutschland "ganz aufgeklärt" sei, "wirkt die Geschichte in uns", sagt Rogowski.
Folgenreich über 120 Jahre lang: "Verbrechergruppe: § 175"
Eingeführt 1871 in der Kaiserzeit und verschärft von den Nazis kriminalisierte der Paragraf 175 explizit Sex zwischen Männern als "widernatürliche Unzucht", die mit Gefängnis zu bestrafen sei. Immer mit dem Segen der Kirche, die Schwulsein als Sünde geißelte. In der NS-Zeit landeten nicht wenige Homosexuelle im Konzentrationslager, selbst wenn sie sich freiwillig kastrieren ließen. Ihr Zeichen war der Rosa Winkel. 80 Prozent von ihnen überlebten das KZ nicht – so wie Alfred Ledermann, an dessen Schickal die Dokumentation von Marco Giacopuzzi erinnert.
Als "homosexueller Asozialer" wird er in der Polizeiakte bezeichnet. 1942 starb er im KZ Sachsenhausen, an "Herz-Kreislauf-Schwäche", wie es zynisch heißt. Er wurde 20 Jahre alt.
Die Homosexuellen mussten im dortigen Klinkerwerk arbeiten. Das war also eine ganz schwere, harte Arbeit. Die standen also den ganzen Tag im Wasser und manchmal haben die Aufseher da zum Spaß einfach mit den Gewehren reingeschossen und geguckt, wer taucht nochmal auf?
Schwulsein im Westen
Die, die überlebten, fanden im Westen Deutschlands alles andere als die "Große Freiheit". Der Paragraf 175 wurde in seiner verschärften Form aus der NS-Zeit übernommen. Wer mit dem Rosa Winkel im KZ war, musste damit rechnen, erneut ins Gefängnis gesteckt zu werden, um die Reststrafe abzusitzen oder wurde aufgefordert, Kosten für die KZ-Haft zu bezahlen. Selbst das Bundesverfassungsgericht bestätigte 1957, dass der Paragraf 175 mit dem Grundgesetz im Einklang stehe. Nach Schätzungen des Justizministeriums wurde gegen 100.000 Männer ermittelt, 64.000 hat man verurteilt. Der Paragraf zerstörte weiter Leben, vernichtete Existenzen.
Gesetzeslage in der BRD
* Der Paragraf 175 wurde zunächst eins zu eins aus der NS-Zeit übernommen.
* Mehrere Gesetzesinitiativen von FDP und Grünen änderten daran nichts.
* Die Zahl der Verurteilungen erreichte 1959 mit etwa 3.800 ihren Höhepunkt.
* Danach legten die Gerichte im Zuge einer liberaler werdenden Gesellschaft die Regelung zunehmend milder aus.
* 1969 wurde der Paragraph 175 in der Bundesrepublik entschärft. Sex mit Männern über 21 war nicht mehr strafbar.
* Frauen fielen nicht unter den Paragrafen 175, was Aktivistinnen darauf zurückführen, dass ihnen überhaupt keine selbstbestimmte Sexualität zugestanden worden sei.
* 1994 wurde der 175er abgeschafft.
In der Dokumentation von Marco Giacopuzzi berichten Zeitzeugen davon. Der heute 80-jährige Hermann Landschreiber aus Gelnhausen erinnert sich, wie ihn die Polizei 1966 abführte, weil die Mutter seines Ex-Freundes ihn angeschwärzt hatte. Er verlor seinen Job bei der Post. Günter Werner, der im katholischen Franken mit einem amerikanischen Soldaten erwischt wurde, landete im Jugendarrest. Wenn er sich später irgendwo bewerben wollte, habe es immer geheißen: "Sie sind ja vorbestraft." Die soziale Ächtung spürte die ganze Familie:
Sie haben auch meinen Vater angegriffen und gesagt: 'Wenn ich so einen Sohn hätte, den tät' ich totschlagen.'
All das Unrecht erfüllt Klaus Beer bis heute mit tiefer Scham. Er ist inzwischen 87 Jahre alt. Als junger Referendar musste er Polizisten bei der Jagd auf Schwule begleiten, die bis in deren Wohnungen führte. Am Amtsgericht Ulm verurteilte Beer einst sechs Männer wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175. Heute sieht er es als Schwäche, den Dienst mit Blick auf seine Familie nicht quittiert zu haben.
Menschen wie Hermann Landschreiber und Günter Werner bezeugen, wie lang und beschwerlich der Weg war von der damals verbotenen Sexualität und Heimlichkeit bis hin zur "Ehe für alle" heute. Angesichts der ständigen Angst, erwischt zu werden oder erpressbar zu sein, war der Wunsch, ein selbstbewusstes schwules Lebens zu führen, lange ein bloßer Traum.
Liberaler im Osten?
Franz Rogowskis Hans schlägt dem Geliebten vor, die "Große Freiheit" im Osten zu suchen, rüberzumachen. Was sich heute seltsam anhört, spielt an auf den Umstand, dass der Paragraf 175 in der DDR viel früher außer Kraft gesetzt und schon 1968 endgültig abgeschafft wurde.
Gesetzeslage in der DDR
* Anders als die BRD kehrte die DDR 1949 zur milderen Version des Paragraphen aus der Zeit der Weimarer Republik zurück.
* Seit 1957 konnte die Staatsanwaltschaft in der DDR von einer Strafverfolgung absehen, wenn von den homosexuellen Handlungen "keine Gefahr für sozialistische Gesellschaft" ausging.
* 1968 wurde der Paragraf ganz abgeschafft.
* Seitdem standen nur noch sexuelle Handlungen mit Jugendlichen gleichen Geschlechts unter Strafe.
So lebten Männer liebende Männer oder lesbische Frauen in der DDR unbehelligt. Es sei denn, sie gerieten anderweitig ins Visier der Staatsmacht oder bestanden darauf, sich nicht mehr verstecken zu wollen. Frank Paul war Mitglied der SED und Stadtbezirksrat. Mit 50 wurde sein Schwulsein öffentlich und zum Problem. Er wurde abberufen. Lothar Dönitz war seit 1964 Angehöriger der Deutschen Volkspolizei. Als junger Mann wusste er genau, wo es in Ost-Berlin Klappen gab. Am 30. Oktober 1970 warteten im Polizeirevier 67 an der Greifswalder-Straße seine Vorgesetzten auf ihn. Gerade erst befördert wurde ihm mitgeteilt, seine Homosexualität verstoße gegen die sozialistische Moral, er könne deswegen kein Offizier mehr sein.
Doch das Thema Homosexualität ließ sich auch im Osten irgendwann nicht mehr verdrängen. Dafür sorgten Aktivisten wie Peter Rausch, der heute Ehemann von Lothar Dönitz ist. Sie machten Ausflüge, feierten und drehten Filme – mit Botschaft wie den von der Kampfdemonstration zum 1. Mai 1977.
Ich weiß nicht, wo Verfolgung anfängt. Es gab in der DDR immer irgendwen, der dich beobachtet hat, der deine Karriere und deine Entwicklung bestimmt hat, und da war in meinen Zusammenhängen immer die Homosexualität ein Thema.
Gefürchtet wurden von Staats wegen die weitere Politisierung über die Forderung nach der Besserstellung von Homosexuellen hinaus oder Kontakte in den Westen, wie Wolfgang Schmidt, damals Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe in der Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit, im Film erklärt.
Outing auf dem evangelischen Kirchentag
Observiert wurde die lesbische Aktivistin Karin Dauenheimer Anfang der 1980er-Jahre. Für den Film öffnet sie ihre Stasi-Akte und erfährt, wieweit die Eingriffe in die Privatsphäre gingen: "Die haben mich beobachtet, sind in meine Wohnung gegangen, haben mein Kind fotografiert." Seit 1977 arbeitete die Theologin als Redakteurin bei der regionalen Tageszeitung "Die Union", herausgegeben von der Ost-CDU, in Dresden und sah sich in einem schweren Konflikt:
Als ich diese erste Coming-out-Welle hatte, habe ich ernsthaft überlegt: Muss ich mich jetzt eigentlich umbringen? Muss ich von der Brücke springen? Gibt es eine Lebensmöglichkeit für mich?
Auf dem evangelischen Kirchentag 1983 in Dresden wagt sie den Befreiungsschlag und outet sich als lesbische Theologin. Von diesem Tag an, so Dauenheimer, war alles anders. In der Zeitungsredaktion sagte ihr der Chef, sie dürfe sich weder mündlich noch schriftlich zum Thema Homosexualität äußern:
Die lesbische Frau an sich war kein Problem, bis sie den Mund aufmacht, renitent ist und eine Gruppe bildet. Bis sie sagt, 'Wir wollen darüber sprechen.'
Wende und Wiedervereinigung beschleunigen Liberalisierung
Wende und Wiedervereinigung beschleunigten das Ende des Paragraphen 175. Ihn 1994 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, war dennoch "ein Kraftakt", wie sich die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in der Dokumentation erinnert: "Das lag daran, dass Homosexualität von manchen immer noch als abnorm, als eine Krankheit oder als eine gefährliche Veranlagung gesehen wurde."
Noch einmal 13 Jahre dauerte es, bis 2017 ein Gesetz zur Rehabilitierung aller Opfer des Paragrafen beschlossen wurde.
Gesetze sind das eine, die Haltung der Bevölkerung etwas ganz Anderes.
Das sagt in der Dokumentation Gottfried Lorenz, der sich seit 1970 für die Rechte Homosexueller einsetzt. Seiner Erfahrung nach lässt sich Homophobie "nicht im Rechts-Links-Schema oder in den Kategorien gläubig/ungläubig" verorten. Er habe Toleranz auf allen Seiten kennengelernt – das Gegenteil auch. Atmosphärisch habe sich heute einiges geändert, schätzt er ein: Aber was würde passieren, wenn eine Rechtsordnung von Nicht-Demokraten gekapert würde, fragte er vor zwei Jahren in einem Interview mit der taz.
Franz Rogowski war acht Jahre alt, als der Paragraf 175 fiel und empfiehlt ebenfalls, sich keine Illusionen zu machen. Zum Glück sei er in einem entspannten Elternhaus aufgewachsen: "Aber wir sind noch nicht so weit, wie wir es gerne wären".
Rehabilitierung?
* 23 Jahre nach Abschaffung des Paragraphen wurde 2017 – gegen viel Widerstand – das Gesetz zur Rehabilitierung beschlossen, auch für Männer, die nach 1945 verurteilt wurden.
* 3.000 Euro beträgt die Entschädigung. 1.500 Euro kommen dazu für jedes angefangene Gefängnisjahr.
* Nur 145 Personen haben bis heute einen Antrag auf Entschädigung gestellt.
* Etwa 5.000 Betroffene leben noch.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 29. Juli 2021 | 22:40 Uhr