Mit Getreidebündeln und vielen andere Sachen zum Dekorieren hat die rührige Kirchgemeinde die Dorfkirche (1690) hübsch für den Erntedank-Gottesdienst am Sonntag geschmückt. Highlight beim Gottedienst war der Auftritt des Männergesangsvereins Schauen, die das „Schauen-Lied“ zum Besten gaben. 4 min
Mit Getreidebündeln und vielen andere Sachen zum Dekorieren hat die rührige Kirchgemeinde die Dorfkirche (1690) hübsch für den Erntedank-Gottesdienst am Sonntag geschmückt. Highlight beim Gottesdienst war der Auftritt des Männergesangsvereins Schauen, die das „Schauen-Lied“ zum Besten gaben. Bildrechte: Bildrechte: MD /Tino Wiemeier

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung Religiöser und kirchentreuer: Protestanten im Ost-West-Vergleich

09. November 2024, 10:30 Uhr

Ostdeutschland gehört weltweit zu den Regionen mit dem höchsten Anteil an Atheisten. Der Trend der Entkirchlichung, der zu DDR-Zeiten schon sehr stark war, hat sich nach der Wende 1989/90 weiter fortgesetzt. Und dennoch gibt es Hoffnung für die Kirchen im Osten Deutschlands. Ostdeutsche Protestanten sind religiöser, sie sind in ihrem Glauben stabiler, während sich westdeutsche stärker von der Kirche entfernen – wie die neue Sonderauswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt.

35 Jahre nach dem Fall der Mauer verlieren die ostdeutschen Kirchen kontinuierlich weiter Mitglieder. Bislang – so das Ergebnis kirchensoziologischer Untersuchungen - ging mit den Kirchenaustritten auch ein Verlust an Religiosität und Kirchenbindung bei den noch verbliebenen Mitgliedern einher.

Doch nun ein neuer Befund: Der Religionssoziologe Edgar Wunder hat sich die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung genauer angeschaut. Mit ihr erforscht die evangelische Kirche, seit zwei Jahren im Verbund mit der katholischen, Religiosität und kirchliche Praxis ihrer Mitglieder. Nach seiner Analyse spricht Religionssoziologe Wunder von "der Überraschung."

Die Kirchenmitglieder in Ostdeutschland haben einen höheren Grand an Religiosität und Kirchenbindung.

Edgar Wunder

Beispiele aus den Ergebnissen der Untersuchung + Im Westen Deutschlands geht nur ein Drittel der evangelischen Christen mehrmals jährlich zum Gottesdienst. In Ostdeutschland dagegen mehr als die Hälfte.

+ Prozentual gesehen beteiligen sich doppelt so viele ost- wie westdeutsche Protestanten am Gemeindeleben.

+ Ostdeutsche Protestanten haben ein höheres Vertrauen in ihre Kirche, schätzen ihre eigene Religiosität höher ein und üben mehr religiöse Praktiken aus als die westdeutschen.

+ Obwohl es in Ostdeutschland wesentlich weniger Kirchenmitglieder gibt, hat rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung in Ost wie West Kontakt zu kirchlichen Einrichtungen. Das bedeutet: die soziale Reichweite der Kirche ist relativ gesehen im Osten wesentlich größer als im Westen.

+ Während sich in den westdeutschen Landeskirchen 41 Prozent der Mitglieder als "säkular" einstufen, sind es im Osten nur 15 Prozent.

Das bedeutet: Im Osten leben statt "Kulturprotestanten" eher "Bekenntnischristen" – und das in einem atheistischen Umfeld. Edgar Wunder weißt darauf hin, dass die tendenziell religiöseren Kirchenmitglieder im Osten in einer deutlichen Kontrastsituation zur extrem säkularen Gesamtgesellschaft sind.

Ostdeutsche Christen nehmen sich als etwas Besonderes wahr, und das trägt sicherlich zur Identitätsbildung bei.

Edgar Wunder

Größere Offenheit der ostdeutschen Gemeinden

Aber wie lässt sich der neue Befund einer höheren Religiosität und Kirchenbindung evangelischer Christen zwischen Ostsee und Erzgebirge erklären?

Edgar Wunder, wissenschaftlicher Referent im Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, verweißt auf die größere Offenheit ostdeutscher Gemeinden. Wie zum Beispiel im Pfarrbereich Landsberg bei Halle an der Saale. Hier ist Werner Meyknecht Pastor.

Wir versuchen, hier das kirchliche Leben für Nicht-Kirchenmitglieder zu öffnen. Und die Grenze, wer Kirchenmitglied ist und wer nicht, weitgehend zu ignorieren.

Werner Meyknecht

Das kirchliche Leben funktioniere nur im Zusammenspiel mit der Gesellschaft. Nicht-Kirchenmitglieder würden auch längst wichtige Funktionen übernehmen, meint der Mittdreißiger.

Die Bedeutung kirchlicher Angebote zeigen

Er erzählt von einer Frau, die in seiner Gemeinde den Kinderchor leitet. Ihre Arbeit sei so gut, dass sich einige Kinder aus dem Chor taufen lassen möchten. "Wir erleben, dass Menschen zum Glauben kommen durch die Arbeit einer Atheistin. Das ist schon spannend", gibt Pastor Meyknecht zu bedenken.

Jugendarbeit ist für Pfarrer Werner Meyknecht essentiell. Er hat in Landsberg eine Pfadpfindergruppe gegründet.
Jugendarbeit ist für Pfarrer Werner Meyknecht essentiell. Er hat in Landsberg auch eine Pfadfindergruppe gegründet. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Diese Kooperation nennt Werner Meyknecht "Ökumene der dritten Art" – ein Begriff, den der katholische Theologe Eberhard Tiefensee geprägt hat.

Wenn wir jetzt nur mit den Mitgliedern arbeiten, werden wir verzwergen. Wir werden eine Sekte. Christus hat ja gesagt, geht hin zu allen, nicht: Geht hin zu den Mitgliedern.

Werner Meyknecht

Auch der Religionssoziologe Edgar Wunder vermutet, dass die weite kirchliche Öffnung gegenüber Außenstehenden zugleich die Kirchenbindung der eigenen Mitglieder stärke. Sie vermeide eine binnenkirchliche Isolation und zeige die Bedeutung der kirchlichen Angebote für die Gesellschaft. Für Wunder sind da die ostdeutschen Kirchengemeinden Vorbild für den Westen.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 10. November 2024 | 09:15 Uhr