Zeitzeugen berichten "Ich war ein DDR-Bürger und auch jüdisch"
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05. Februar 2024, 10:15 Uhr
Alle jüdischen Familien hatten Tote zu beklagen, die meisten Synagogen waren in der Pogromnacht verbrannt. Und trotzdem entschieden sich einige, ins Land der Täter zurückzukehren oder zu bleiben. Manche setzten große Hoffnungen in die DDR, die sich als antifaschistischer Staat definierte. Doch wie lebten Juden in dem atheistischen Land? Zwei Zeitzeugen aus Sachsen, Renate Aris und Herbert Lappe, erzählen.
Renate Aris war zehn Jahre alt, als der Krieg endete. Der Judenverfolgung entkam sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder, weil Privatleute sie in Dresden versteckten.
Wir lebten. Das war das Allerwichtigste. Aber die große jüdische Familie Aris gab es nicht mehr.
Nach dem Krieg begann für die Familie ein neues Leben in Deutschland.
Ein Neuanfang im Land der Täter?
Diese Frage stellte sich so nicht, wie sich Renate Aris erinnert.
Nach Jahren der Angst, endlich ein normales Leben führen, in die Schule gehen zu können – das allein zählte für das junge Mädchen.
Herbert Lappe war drei Jahre alt, als seine Eltern mit ihm aus dem Londoner Exil nach Dresden zurückkehrten. Sie waren Kommunisten und Juden, hofften in "dem besseren Teil Deutschlands" auf ein Leben ohne Antisemitismus.
Eigentlich glaubten sie, dass der Sozialismus alle Probleme dieser Welt lösen würde. Und, dass, wenn Menschen ähnlich gute Lebensbedingungen haben, auch der Antisemitismus verschwinden würde, das war mal ihre Grundvorstellung.
Die Gemeinde als Schutzraum
Sofort suchten sie wieder Kontakt zur Gemeinde, allerdings weniger aus religiösen Gründen, wie Herbert Lappe erklärt: "Das war für sie wichtig als ein Bekenntnis zum Judentum, weil das ihr eigenes Leben und das der Vorfahren so sehr dominiert hatte. Das hatte mit der Religion überhaupt nichts zu tun, sondern das war wie eine Tradition. Die Gemeinde war ein Schutzraum, denn man wusste, deren Mitglieder sind mit Sicherheit keine Nazis gewesen."
In Dresden, wo die Familien Lappe und Aris lebten, gab es nach 1945 keine Synagoge mehr – sie war in der Pogromnacht und den Tagen danach zerstört worden.
So erlebte Renate Aris 1948 ihre Bat Mizwa in dem Gemeindehaus in Dresden-Neustadt, als erste nach dem Krieg:
Als ich die zehn Gebote auf Hebräisch vortrug, war plötzlich ein ganz lautes Schluchzen zu hören. Normalerweise ist eine Bat Mizwa Anlass zur Freude für die Familie und die Gemeinde. Man wird in die Erwachsenengemeinschaft aufgenommen. Ich fragte eine alte Dame, die lange im KZ war, warum? 'Ja, sagte sie: Wir haben jahrelang täglich dem Tod ins Auge geschaut. Dass wir noch einmal so ein wichtiges Fest erleben, hätten wir uns nicht träumen lassen.
Wiedergutmachung und Angst vor neuem Antisemitismus
Die DDR verurteilte Antisemitismus und finanzierte in Erfurt und Dresden Anfang der 1950er-Jahre den Bau oder Umbau der Synagogen – als "Akt der Wiedergutmachung". Aber einfach war es damals nicht für die Juden im Osten. 1952 und 1953 wurden unter Stalin jüdische Intellektuelle verfolgt – das verbreitete auch in der DDR Schrecken in den jüdischen Gemeinden. Religiös gebunden zu sein, galt als Relikt aus vor-sozialistischen Zeiten. Den neu gegründeten Staat Israel hatte Stalin als imperialistischen Feind definiert. Jüdischen Gemeinden standen so in Verdacht, potenzielle Agentenzentren für den Westen zu sein. Gerade aktive jüdische Gemeindemitglieder verließen den vermeintlich "besseren Teil Deutschlands" wieder gen Westen.
Der Dresdner Vorstand ist geschlossen weggegangen. Die Menschen hatten einfach Angst, dass diese politische Situation, wie sie sich in der Stalin-Ära in dieser Zeit war, überschwappt.
Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck nach. Die Familien Aris und Lappe blieben im Land und zeigten sich auch in Folge weitestgehend staatstreu. Der DDR waren die Juden insofern wichtig, als sie ein Beleg für gelebten Antifaschismus sein sollten. Entschädigt, wie in der BRD, wurden die Juden nicht. Denn die DDR sah sich eben wegen ihrer Antifaschismus-Doktrin nicht als Rechtsnachfolger des NS-Regimes. Aber es gab Vergünstigungen; eine etwas höhere Rente, die Erlaubnis, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zu nutzen.
Herbert Lappe erinnert sich, dass das bestellte Auto schneller als erwartet kam: "Meine Mutter hatte sich einen Trabant bestellt. Sie konnte zwar nicht fahren, aber nach einem halben Jahr hatte sie den und somit hatte ich mein Auto. Sie wissen, wie lang die Wartezeiten in der DDR sonst waren."
Renate Aris lobt die ausgezeichnete ärztliche Betreuung durch die sogenannten VdN-Ärzte (VdN - Verfolgte des Nazi-Regimes): "Man ging dann zu diesen Ärzten. Wir konnten auch jederzeit, wenn der Arzt das für nötig hielt, eine Kur antreten. Das war hervorragend."
Neue Synagogen, aber kaum noch Gläubige
Bis 1961 hatten "alle acht jüdischen Gemeinden in der DDR wieder ihr eigenes Heim", wie die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" zur Einweihung des Karl-Marx-Städter Gemeindehauses am 23. Oktober 1961 berichtete. Aber die Gemeinden waren klein und überaltert. Das erlebte auch Renate Aris, als sie nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, zog, um am Theater als Kostümbildnerin zu arbeiten.
Es war eine eingeschworene Gemeinschaft in der DDR, die Gemeinden wurden immer kleiner, es kam ja niemand hinzu. Ein Gottesdienst beispielsweise kann nur stattfinden, wenn zehn Männer da sind, die eine Bar Mitzwa hatten. So viele gab es hier gar nicht mehr.
Dresden hatte zwar inzwischen eine Synagoge, aber keinen Rabbiner und keinen Kantor.
Religiös zu leben war schwierig.
Gottesdienste fielen also aus, man besuchte sich untereinander, um gemeinsam zu beten.
Es kam zu den wichtigen Feiertagen Kantor Lugoschi aus Ungarn. Für Pesach, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, benötigte man Matze, ungesäuertes Brot, das wurde aus Ungarn geliefert. Und bei solchen Festivitäten in der Gemeinde brauchte man auch koscheren Wein.
Koschere Lebensmittel waren in nur einem Laden in Berlin erhältlich. Aber für die wenigen Kinder gab es ein jüdisches Ferienlager an der Ostsee. Dort lernten viele Kinder, auch die von Herbert Lappe, überhaupt erst einmal ein paar Worte hebräisch und wie man Schabbat feiert.
Nur noch 400 Juden in den Gemeinden am Ende der DDR
Ende 1980er-Jahren lebten etwa 400 Jüdinnen und Juden in der DDR. Auf die Frage, ob sie sich als Minderheit gefühlt oder Antisemitismus erfahren habe, antwortet Renate Aris: "Ich habe persönlich keine Erfahrungen damit machen müssen. Aber das will nichts besagen. Wir haben gelebt, wie jeder DDR-Bürger auch." Nach der Wende hat sie die neuen Gemeindemitglieder willkommen geheißen. Heute hat sie etwa 500 Mitglieder.
Für Herbert Lappe ist das Jüdischsein heute ein wichtiger Teil seines Lebens. Das war nicht immer so, anders als bei seinen Eltern: "Mein Vater durfte in Deutschland nicht studieren, meine Mutter musste aus Österreich fliehen. Das alles, weil sie Juden waren. Da war das natürlich viel präsenter. Ich war ein DDR-Bürger und auch jüdisch."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 08. Oktober 2020 | 22:40 Uhr