Freiwillig in die Förderklasse Inklusion: Wie Josephine die richtige Schule in Leipzig fand
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16. Juli 2024, 05:00 Uhr
Ihr Zeugnis bekamen gerade nicht nur Schülerinnen und Schüler in Sachsen und Thüringen, sondern die deutsche Schullandschaft insgesamt. Der nationale Bildungsbericht 2024 sieht das Bildungssystem am Anschlag. Personal- und Finanzmangel sowie eine große soziale Ungleichheit sind zentrale Probleme. Was die Aufgabe, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Regelschulen zu integrieren, nicht einfacher macht. 15 Jahre nach der UN-Konvention besteht das parallele System der Förderschulen fort. Ist Inklusion also eine Illusion? Passend zum Ferien-Beginn erzählen wir eine Schulgeschichte aus Sachsen.
Die Schulgeschichte von Josephine Raschke aus Böhlen in Sachsen nimmt viele Wendungen. Für ihre Eltern heißt es immer wieder, den Mut nicht sinken lassen und die Orientierung nicht verlieren.
"Was ist jetzt mit Schule?"
Als Josephine auf die Welt kommt, scheint alles in Ordnung. Doch sie ist sehr klein und entwickelt sich verzögert. Erst Jahre später stellen die Ärzte einen Gendefekt fest, der sich auf Wachstum und Immunsystem, aber auch auf kognitive Bereiche auswirkt. Josephines Eltern haben lange die Hoffnung, dass ihre Tochter die Entwicklungsrückstände aufholen kann. Doch es kommt anders.
"Es war niederschmetternd, die Defizite so vor Augen geführt zu bekommen", erinnert sich Josephines Vater, Michael Scherbaum, an den Tag der Schuluntersuchung. "Und dann stellte sich natürlich sofort die Frage: 'Was ist jetzt mit Schule?'", erzählt er und spricht von seinen Gefühlen, die damals schwanken zwischen Trauer und Wut.
Dass eine 'normale' Schule nicht in Frage kommt, hat die Ärztin relativ deutlich zum Ausdruck gebracht.
Umso glücklicher sind die Eltern, eine inklusive Schule für Josephine zu finden. Sie fühlt sich dort wohl und liebt besonders das Theaterspielen: "Das war meine Leidenschaft, da habe ich endlich meine Scheu abgelegt." Sie mag ihre Lehrer, wird zu Geburtstagen ihrer Mitschülerinnen eingeladen. All das ändert sich im Alter von zehn, elf Jahren, berichtet ihre Mutter Beate Raschke. Mit den Bauchschmerzen immer schon am Vorabend mehren sich die Fehltage. Josephine sagt, das Klassen-Team sei damals einfach auseinander gebröckelt.
Die Interessen gehen in der Pubertät weit auseinander – so wie auch die Leistungen. Josephine fühlt sich immer mehr in einer ungewollten Sonderrolle, trotz Inklusionshelfer. Nach zwei Jahren hält sie die Situation nicht mehr aus. Ein Wechsel scheint ihren Eltern unvermeidlich.
Von der inklusiven Schule in die Förderklasse
Seit zwei Jahren besucht Josephine nun das Werner-Vogel-Schulzentrum in Leipzig, eine Förderschule mit Schwerpunkt geistige Entwicklung, betrieben von der Diakonie. Sie besucht die 11. Klasse, die sogenannte Werkstufe. Insgesamt zehn Schülerinnen und Schüler im Alter von 16 bis 19 Jahren lernen hier zusammen. Josephine selber schätzt ein: "Ich kann nicht alles machen. Ich brauche in vielen Dingen auch Hilfe." Ihr Klassenlehrer Alexander Herbst, der von pädagogischen Fachkräften unterstützt wird, findet, seit Josephine Kontakte und Freundschaften geknüpft habe, gehe sie "sicherer und etwas gelassener an ihre Aufgaben heran". Spaß mache ihr der Sport, erzählt Josephine, Lesen oder Rechnen auch "ein bisschen". Inzwischen arbeitet sie außerdem mit bei der Schülerzeitung, das gefällt ihr am meisten.
Sich ausprobieren zu können, das ist Teil des Konzepts. Auch sollen Praktika helfen, die Jugendlichen auf das Leben nach der Schule vorzubereiten.
Stichwort: UN-Behindertenrechtskonvention & Schulische Inklusion in Deutschland
Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Garantieren soll sie auch das Recht auf inklusive Bildung. Die Bundesländer gehen ganz unterschiedlich damit um. Bremen gilt als Vorreiter und schrieb sich den Auftrag, alle Schülerinnen und Schüler zu fördern noch 2009 ins Schulgesetz. Über die Jahre wurden Strukturen geschaffen, die Inklusion leichter machen. So gibt es an fast allen Schulen in der Leitung eine zusätzliche Person, die für Inklusion zuständig ist. In Bremen machen heute über 60 Prozent der Jugendlichen mit Förderbedarf einen Schulabschluss, erreichen also die Berufsbildungsreife. Vor 2009 waren es nur 20 Prozent. Hingegen verlassen bundesweit gesehen mehr als 70 Prozent der Förderschüler die Einrichtung ohne Abschluss.
Aktivisten wie Ottmar Miles-Paul, Sprecher der Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen in Deutschland, LIGA, sprechen von einer "Exklusionskette", die von der Förderschule in die spezielle Werkstatt und das Wohnheim für behinderte Menschen führt, sie fordern inklusive Angebote für "ein Leben mittendrin". Davon würden nicht nur Menschen mit Behinderungen profitieren.
Auf Bremen folgen im Ranking der Inklusionsquoten Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Die Bemühungen in Sachsen oder Thüringen scheinen zu verharren. Insgesamt gesehen gilt der Stand der schulischen Inklusion in Deutschland als so mangelhaft, dass der UN-Ausschuss in Genf im Herbst 2023 die deutsche Bildungspolitik rügte. Das parallele System aus Förder- und Regelschulen widerspreche der Konvention.
Werner-Vogel-Schulzentrum: Erfahrung in beiden Systemen
Das Werner-Vogel-Schulzentrum betreibt bereits seit 2018 auch eine inklusive Grundschule. So hat Leiter Tobias Audersch Erfahrungen in beiden Systemen. Er stellt fest, die Förderschule sei weiterhin stark nachgefragt. Auch durch Eltern von Kindern, die bis dahin inklusiv unterrichtet worden seien.
Stichwort: Werner-Vogel-Schulzentrum
Das Werner-Vogel-Schulzentrum betreibt eine staatlich anerkannte Ersatzschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung, eine staatlich genehmigte Grundschule und einen Hort am Silbersee in Leipzig-Lößnig. Das vielfältige Unterrichtsangebot der modern ausgestatteten Schule wird um Ganztagsangebote, eine Beratungsstelle und die Möglichkeit der Ferienbetreuung ergänzt. In der einzügigen Grundschule werden Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam beschult.
Seit 2020 werden Kinder ohne Behinderung in den Alltag an der Förderschule integriert. Diese Form des gemeinsamen Lernens funktioniert dank einer Mischkalkulation: Die Kinder mit Förderbedarf bekommen eine größere Unterstützung vom Staat. Die Eltern der Kinder ohne Förderbedarf zahlen Schulgeld. So können zusätzliche Pädagoginnen und Pädagogen für individuelle Betreuung sorgen. Von lernunterstützenden Methoden wie Gebärden, Bildsymbolen sowie einer klaren Strukturierung der Abläufe profitieren den Erfahrungen nach nicht nur die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung.
Am Werner-Vogel-Schulzentrum werden in Trägerschaft der Diakonie Leipzig seit 1967 Kinder mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung unterrichtet.
Audersch betont: Fehle etwa trotz der inklusiven Schulform "der soziale Anschluss", sei das frustrierend und könne eine "totale Schulunlust" zur Folge haben. Außerdem sei die "immer größer werdende Schere zwischen Schülern im Förderspektrum geistige Entwicklung und den Oberschulkindern, die nach einem anderen Lehrplan unterrichtet werden" ein Faktor, "thematisch und vom Leistungsniveau her".
Das alles zusammenzuführen sei eine große Herausforderung für alle Beteiligten. "Wir haben schon erlebt, dass Kinder und Jugendliche selber gesagt haben: 'Ich will in eine Klasse, die im Leistungsmittel eher meinem Niveau entspricht und damit in die Förderschule.'" Dennoch sagt Audersch, Inklusion sei keine Illusion, sondern "eine Vision, die ich teile".
Inklusion ist keine Illusion, sondern eine Vision, die ich teile.
Audersch verweist aber auch auf die Kluft zwischen der grundsätzlichen Idee für ein inklusives Schulsetting und den Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssten: Es gehe nicht von jetzt auf gleich. "Also der extremste Weg ist natürlich, man macht eine Förderschule zu, verteilt die Schülerinnen und Schüler, die vorher dorthin gegangen sind, auf die Regelschulen nach irgendeinem System und guckt, wie es läuft." Das aber wäre unverantwortlich. Denn dann kann es passieren, dass Kinder unter die Räder kommen, nicht die Beachtung erfahren, die sie brauchen für eine erfolgreiche schulische Laufbahn und gute Bildungserlebnisse."
Stichwort: Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf & Elternwahlrecht
Bundesweit gibt es mehr als eine halbe Million Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf. Der Förderschwerpunkt Lernen macht mit rund 40 Prozent den größten Anteil aus. Danach folgen die Förderschwerpunkte sozial-emotionale und geistige Entwicklung mit jeweils rund 18 Prozent. Da etwa 245.855 der insgesamt 559.750 Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbedarf in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, bezogen auf das Schuljahr 2020/2021, liegt der Inklusionsanteil bei rund 44 Prozent. Im Jahr 2022 wurden laut nationalem Bildungsbericht bereits 595.700 Kinder und Jugendliche sonderpädagogisch gefördert, also erneut mehr als in den Vorjahren.
Die Zahl der Förderschulen hat sich dem Bericht zufolge seit 2008 bundesweit um etwa 500 auf 2.800 Schulen reduziert. Doch behielten sie mit 20 Prozent aller Schulen große quantitative Bedeutung – bei durchschnittlich geringerer Schulgröße.
Ob Kinder in einer Regel- oder Förderschule unterrichtet werden sollen, können in Sachsen die Eltern entscheiden, "soweit bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind", heißt es dazu auf der Website. Anders als in Bremen, dort bezieht sich das Elternwahlrecht nur auf "die bestehenden Spezialförderzentren für den sonderpädagogischen Förderbereich Hören, Sehen und körperlich- motorische Entwicklung", stellt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung heraus. Alle anderen würden an der Regelschule unterrichtet. Bundesländer, die ein Elternwahlrecht einräumten, müssten in der Konsequenz, "eine Doppelstruktur an inklusiver Bildung in der Regelschule und exklusiver Bildung in der Förderschule aufrechterhalten" heißt es im Hinblick auf die knappen Ressourcen.
Dass das Elternwahlrecht auch andernorts eher eine Vision ist, legt der nationale Bildungsbericht nahe. Darin heißt es: Solle schulische Inklusion gelingen, setze dies "eine hinreichende räumliche, materielle und personelle Ausstattung der Regelschulen in Wohnortnähe voraus": "Damit dürfte es in Zusammenhang stehen, dass einerseits manche Eltern eine separate Förderung ihrer Kinder inklusiver Beschulung vorziehen, andererseits Grundschullehrkräfte mitunter eher eine Übergangsempfehlung für eine Förder- als für eine sonstige allgemeinbildende Schule aussprechen."
"Es gibt kein Schwarz oder Weiß"
Auf die Frage, welche Bilanz sie nach zwei Jahren zieht, sagt Josephine: "Ich bin selbstbewusster geworden, kann jetzt besser mitreden als früher, habe mehr Vertrauen."
Ich bin selbstbewusster geworden, kann jetzt besser mitreden als früher.
Ihren Geburtstag hat sie nicht mehr alleine, sondern mit 13 Mitschülern und Mitschülerinnen gefeiert. Wie gut das ging, hat selbst Josephines Vater überrascht. "Ich habe gespürt, wie die Kinder aufeinander acht geben, wie die sich wahrnehmen, wie die sich helfen. Das war völlig unkompliziert. Das war ein sehr, sehr schöner Geburtstag."
Überhaupt betont er die positiven Erfahrungen, die seine Tochter in der Förderschule sammeln konnte: "Ein Mädchen, was schlecht verstanden wird oder glaubte, nicht schreiben zu können, arbeitet in der Schulzeitung mit anderen zusammen, macht super Artikel! Das merkt man auf jeden Fall, dass Josephine jetzt glücklicher durchs Leben geht."
Er plädiert für Vielfalt in der Schullandschaft, damit für jedes Kind die passende Schulform gefunden wird. "Es gibt kein Schwarz oder Weiß."
Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 27. Juni 2024 | 22:40 Uhr