Der Redakteur | 19.06.2023 Wieso wurde den Arbeitern in der Thüringer Süßwarenindustrie der Streik verboten?

19. Juni 2023, 16:11 Uhr

MDR THÜRINGEN-Hörer Andreas Hocke aus Suhl fragt sich, warum die Streiks in der Süßwarenindustrie Mitte Juni in Thüringen gerichtlich verboten wurden. Welche Gründe gibt es dafür und wer darf Beschäftigten überhaupt das Streiken verbieten? Warum braucht es überhaupt Tarifverträge, was soll das mit den Laufzeiten, der Friedenspflicht und den Schlichtern? Redakteur Thomas Becker ist diesen Fragen nachgegangen.

Ein Tarifvertrag ersetzt Zigtausende Einzelverträge. Was sonst der Arbeitgeber mit jedem einzelnen Angestellten aushandeln müsste, wird gebündelt und den Tarifparteien überlassen. Das sind zum Beispiel der Arbeitsgeberverband auf der einen Seite und eine Gewerkschaft auf der anderen. Tarifautonomie ist das Stichwort.

Die sind auch sehr zufrieden mit der Regelung und möchten nur ungern, dass sich da auch noch die Politik reinhängt. Am Ende kann ein Tarifvertrag sogar auch für Mitarbeiter gelten, die nicht Gewerkschaftsmitglieder sind. Deshalb enthalten Arbeitsverträge gern eine sogenannte "Bezugnahmeklausel", auch Gleichstellungsklausel genannt. Heißt: Auch wenn man kein Mitglied ist, gilt das, was im Tarifvertrag steht.

Tarifverträge regeln für eine Vielzahl von Beschäftigten die Arbeitsbedingungen, sonst müsste man das mit jedem einzelnen Arbeitnehmer aushandeln. Das ist ein immenser Aufwand.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein

Das Grundgesetz schützt das Streikrecht, obwohl es da so direkt gar nicht drinsteht. Aber die regelmäßige Rechtsprechung deutet es so, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht.

Verhältnismäßigkeit oder formelle Dinge können Streik entgegenstehen

Nur schützt das Grundgesetz eben auch das Eigentum und damit den Betrieb und schon sind wir bei einem Konflikt und einem Ausgleich verschiedener Grundrechtspositionen und damit bei Abwägungen und der Justitia mit ihrer Waage.

Streitpunkte können die Ziele eines Streiks sein, die Verhältnismäßigkeit oder formelle Dinge, ob zu diesem Zeitpunkt überhaupt gestreikt werden darf. Das wäre das Stichwort "Friedenspflicht".

Worum geht es bei den Streiks in der Süßwarenindustrie?

Das Arbeitsgericht in Hamburg hatte einem Eilantrag des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) stattgegeben. Der wollte der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in einigen Regionen Streiks verbieten, mit Verweis darauf, dass die tarifvertraglichen Kündigungsfristen bestehender Tarifverträge noch nicht abgelaufen seien. Zu den betroffenen Regionen gehört ganz Ostdeutschland außer der Westteil Berlins.

Gewerkschaft will deutschlandweiten Tarifvertrag für Beschäftigte

Hintergrund ist der Plan der Gewerkschaft, erstmals einen deutschlandweiten Tarifvertrag für die rund 60.000 Beschäftigten auszuhandeln. Dabei sollen die bisherigen Tarifverträge quasi zusammengefasst werden, nur wurden diese eben nicht am gleichen Tag abgeschlossen, einige laufen noch und während der Laufzeit der Verträge gelte eine Friedenspflicht, so das Gericht. Der Umstand, dass die Tarifparteien bundesweit einheitliche Verhandlungen führten, ändere daran nichts. Ob das die nächsten Instanzen genauso sehen, wird sich zeigen.

Was ist die Friedenspflicht?

Ein Tarifvertrag hat eine Laufzeit und ein "Mindeshaltbarkeitsdatum". Bis zu diesem Datum gilt die Friedenspflicht. Vor Ablauf dürfen zwar schon neue Verhandlungen geführt werden, aber Arbeitskampfmaßnahmen sind untersagt. Am nächsten Tag kann es aber theoretisch damit losgehen. Trotzdem gilt der Tarifvertrag weiter.

Da sind wir wieder beim MHD - der Joghurt ist ja am nächsten Tag auch nicht gleich schlecht. Rechtlich spricht man von einer Nachwirkung, bis etwas Neues kommt, gilt das bisherige. Deswegen gibt es auch Arbeitgeber, die einen Tarifvertrag scheuen, denn wenn einmal einer abgeschlossen wurde, werden sie ihn nicht so einfach wieder los, schon gar nicht mit Ablauf des MHD.

Wer darf streiken und wie?

Wenn nun die Gewerkschaft ein zulässiges Arbeitskampfziel hat (Lohn, Arbeitszeitregelungen, Arbeitsbedingungen) und die Verhandlungen gescheitert sind, darf sie zum Streik aufrufen. Begriffe wie "Urabstimmung" tauchen dann auf.

Das sind aber Dinge, die aus den Satzungen der Gewerkschaften kommen, erklärt der Arbeitsrechtler Jürgen Markowski und ergänzt: Ein unzufriedener Arbeitnehmer, der sich vielleicht überfordert fühlt oder mehr Geld möchte, der kann nicht einfach einen Streik ausrufen. Dieses Recht steht nur den Vereinigungen der Arbeitnehmer zu, also den Gewerkschaften.

In Deutschland ist es so, dass das Recht Arbeitskampfmaßnahmen einzuleiten, den Vereinigungen der Arbeitnehmer zusteht, nicht dem einzelnen Arbeitnehmer.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein

Streik darf kein politisches Ziel haben

Auch gibt es bei uns nicht die Möglichkeit, für politische Ziele zu streiken. Das mag in anderen Ländern anders sein, in Frankreich zum Beispiel wird gern der Generalstreik zelebriert, den sieht das deutsche Recht nicht vor. Deshalb war die kürzlich einmal ins Spiel gebrachte Idee, Eisenbahner und Klimaschützer könnten doch irgendwie gemeinsam Deutschland lahmlegen, um ihren jeweiligen Zielen noch mehr Nachdruck zu verleihen, von recht wenig Sachverstand geprägt.

Auch haben Streiks Grenzen, die letztlich wieder Gerichte setzen. Hier sind wir auch beim Thema Verhältnismäßigkeit, wobei die Gerichte in der Regel sehr viel laufen lassen, selbst die im Einzelhandel schon praktizierte "Streikform", bei der Kunden animiert wurden, an der Kasse zwar einen vollen Einkaufswagen aufs Band zu packen, aber plötzlich kein Geld dabei zu haben, ging bei Gericht als zulässig durch. Auf diese Großzügigkeit verlassen sollten sich die Gewerkschaften aber nicht.

Die Gewerkschaft hat auch ein Risiko. Wenn sie zu einem rechtswidrigen Streik aufruft, macht sie sich im schlimmsten Fall schadenersatzpflichtig.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein

Warum nicht gleich eine Schlichtung?

Viele Tarifverträge haben Schlichtungsklauseln. Das bedeutet: Wenn wir zwei beide es alleine nicht schaffen, muss jemand vermitteln. Das hat in vielen Situationen schon geholfen, eine ziemlich verfahrene Situation aufzulösen.

Schlichter müssen auch gar nicht die großen Branchenexperten sein, sondern in der Lage, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Tarifparteien von ihren Positionen wegkommen können, erklärt Rechtsanwalt Jürgen Markowski. Aber eigentlich entscheiden die ihre Angelegenheiten am liebsten selbst, als dass ein Dritter darüber befindet. Das ist durchaus ein Privileg, dass alle zu schätzen wissen, und bei aller Eskalation in der Wortwahl haben sich am Ende alle wieder lieb.

Sie müssen sich am Ende wieder lieb haben, denn es geht ja weiter, das sollte man nie unterschätzen, man muss ja weiter zusammenarbeiten.

Rechtsanwalt Jürgen Markowski Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein

Quelle: MDR (jw)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 19. Juni 2023 | 17:40 Uhr

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