Hintergründe Die 'Ndrangheta in Erfurt
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04. November 2015, 05:00 Uhr
Sie kontrolliert den Kokain-Handel in Europa und nutzt Restaurants zur Geldwäsche: Die 'Ndrangetha hat ihr Netz von Italien aus über Jahrzehnte hinweg ausgeweitet - auch nach Erfurt.
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Was ist die 'Ndrangheta?
Die 'Ndrangheta ist eine der größten und mächtigsten kriminellen Vereinigungen in der Welt mit einem jährlichen Umsatz von rund 53 Milliarden Euro und mehr als 50.000 Anhängern auf allen Kontinenten. Ihren Ursprung hatte die Organisation in der süditalienischen Region Kalabrien, wo sie bereits im 19. Jahrhundert dank ihrer Brutalität und starken familiären Struktur die Macht über mehrere Ortschaften ergreifen konnte.
Mit dem Kapital, das sie in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem durch Entführungen erwirtschaften, stiegen 'Ndrangheta-Clans wie die Morabito, Piromalli, Pelle, Nirta, Romeo, Pesce und andere ins Drogengeschäft ein - vor allem in das mit Kokain. Derzeit hat die 'Ndrangheta das Monopol über den Kokainhandel in ganz Europa.
In den vergangenen 30 Jahren hat die Organisation auch ihr internationales Netzwerk ausgebaut: 'Ndrangheta-Zellen, sogenannte "locali" sind unter anderem in Kanada, Australien, USA, Spanien, den Niederlanden und Deutschland eingenistet. In Deutschland rechnet das Bundeskriminalamt der Organisation rund 300 aktive Mitglieder zu, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, aber auch in den neuen Bundesländern. Nach dem Bundeslagebericht des BKA 2014 ist die ‘Ndrangheta nach wie vor die "dominierende Mafiagruppierung" in Deutschland.
Was ist die "Erfurter Gruppe"?
Die "Erfurter Gruppe" ist eine lose Gruppierung von Gastro-Unternehmern, die von deutschen und italienischen Ermittlern dem erweiterten Kreis der kalabrischen 'Ndrangheta zugerechnet werden. In einem BKA-Lagebericht aus dem Jahr 2001 wird Erfurt als Stützpunkt für Drogenhandel und Geldwäsche bezeichnet. Die Ermittler vermuten, dass die 'Ndrangheta in Erfurt eine Zelle - genannt "locale" - gegründet hat.
Nach den Erkenntnissen des BKA sollen die Gründungsmitglieder Mitte der 1990er-Jahre aus der Region um Duisburg nach Erfurt gezogen sein. In den Jahren nach der Wende investierte die 'Ndrangheta viel Geld in die neuen Bundesländer: In einem Abhörprotokoll der italienischen Polizei kann man lesen wie ein sogenannter Broker der Organisation, Salvatore Filippone, einen Boss in Kalabrien fragt, was er in Ostdeutschland kaufen solle. Der Mafiosi antwortet schlicht: "Alles".
Nach dieser Strategie gründete ein späteres Mitglied der "Erfurter Gruppe" bereits 1994 eine Gesellschaft in Erfurt. Dies gelang ihm mithilfe eines lokalen Managers, der als Spezialist für die Privatisierung von Staatseigentum gilt. Es ist also zu vermuten, dass die 'Ndrangheta die Privatisierungswelle der 90er Jahren genutzt hat, um Drogengeld durch legale Investitionen zu waschen. Dies ist auch die Meinung des ehemaligen Dezernatsleiters für Organisierte Kriminalität des Berliner Landeskriminalamtes Bernd Finger. Er sagte MDR THÜRINGEN: "Nach der Wende war natürlich sehr viel aufzukaufen, denn insbesondere in der ehemaligen DDR gab es Staatseigentum und volkseigene Betriebe, die schlagartig privatisiert wurden, oftmals durch Treuhand."
In den darauffolgenden Jahren zogen immer mehr Gastro-Unternehmer, die den Ermittlern zufolge der 'Ndrangheta sehr nah stehen, nach Erfurt. Zwischen 1996 und 2006 öffneten sie in der Stadt etwa sieben Lokale und gründeten mehrere Unternehmen. Die meisten von ihnen kommen ursprünglich aus Kalabrien - genauer gesagt aus dem kleinen Dorf San Luca, dem Hauptquartier der Clans Nirta-Strangio und Pelle-Vottari-Romeo. Zur Gruppe gehören aber auch Unternehmer aus der Toskana, Sizilien und den Marken.
Zwei dieser Unternehmer sind seit mehr als 20 Jahren der deutschen und italienischen Polizei bekannt: Einer von ihnen wurde Mitte der 90er-Jahre von einem Gericht in Duisburg wegen Drogenhandel zu einem Jahr Haft verurteilt und später wegen Mordversuchs verdächtigt. Ein anderer wird bereits seit den 80er-Jahren von den italienischen Carabinieri als aktives Mitglied der 'Ndrangheta beschattet. In vier Fällen ermittelten deutsche und italienische Behörden zwischen 1993 und 1996 über die zwei Männer. Nachdem sie nach Erfurt zogen, wurden sie von der Justiz nicht weiter behelligt.
Erst im Jahr 2007 rückte Erfurt erneut ins Rampenlicht: Im August wurden sechs Männer aus Kalabrien vor einem Restaurant in Duisburg umgebracht. Das Restaurant gehörte früher einem prominenten Mitglied der "Erfurter Gruppe". Gleich nach dem Mord rief laut Medienberichten ein Mitglied der 'Ndrangheta, der von der italienischen Polizei abgehört wurde, in Erfurt an. Ein Zusammenhang zwischen dem sechsfachen Mord und der "Erfurter Gruppe" ließ sich jedoch nicht herstellen. Die Journalisten und Buchautoren Jürgen Roth und Petra Reski, die die in ihren Büchern die Beziehungen zwischen Erfurter Unternehmern und der ‘Ndrangheta thematisierten, wurden von deutschen Gerichten dazu verurteilt, den Unternehmern hohe Entschädigungen zu zahlen.
Was ist die DIA?
Die Direzione Investigativa Antimafia ist ein Kriminalamt, in dem Ermittler aller italienischen Polizeibehörden gesammelt sind mit dem Ziel, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Die Idee, dass Offiziere der Polizei, Carabinieri und Finanzpolizei (Guardia di Finanza) gemeinsam gegen die Mafia kämpfen, stammt aus der Erfahrung des sogenannten Anti-Mafia-Pool unter der Leitung vom Generalstaatsanwalt Giovanni Falcone, der 1992 einem Attentat von Cosa Nostra zum Opfer fiel.
Die DIA arbeitet derzeit vor allem im Bereich der Finanz-Ermittlungen und Vermögensabschöpfungen. Seit 1992 hat die DIA Mafia-Vermögen im Wert von rund 25 Milliarden Euro beschlagnahmt und sichergestellt. Mehr als 10.000 Anhänger von Mafia-Organisationen wurden von Offizieren der DIA festgenommen. Die DIA hat zudem eine koordinierende Rolle im Rahmen der deutsch-italienischen Task Force für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt - Die Story | 07. November 2018 | 20:45 Uhr