Marcel Auermann Chefredakteur HCSB  - Ein Schulkind sitzt in einem Gang auf dem Boden. 5 min
Audio: Anstieg an Gewalttaten an Schulen ist ein Abbild der gesamtgesellschaftlichen Lage – ein Gastbeitrag von Marcel Auermann Bildrechte: Elena Russo - IMAGO / Zoonar
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Gastbeitrag Marcel Auermann Gewalt an Schulen

MDR AKTUELL Fr 29.03.2024 08:39Uhr 04:58 min

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"Meinung zu Gast" Gewalt darf nicht den (Schul-)Alltag bestimmen

29. März 2024, 09:15 Uhr

Der Arbeits- und Fachkräftemangel zeigt sich natürlich auch an Schulen. Nur hat er in diesem Bereich besonders unschöne Folgen, die zum Schutz unseres Nachwuchses schnell und konkret angepackt werden müssen, meint "Meinung zu Gast"-Autor Marcel Auermann.

Schulen sollten Schutzräume für die Jüngsten unserer Gesellschaft sein. Sollten. Sind sie aber nicht mehr. Vielmehr werden sie zum Tatort. Das ist beileibe keine gewagte Einschätzung, wenn man die aktuelle Bilanz zu Gewalt an Thüringer Schulen anschaut.

Im vergangenen Jahr sind nach Angaben des Bildungsministeriums 561 Körperverletzungen an und um Bildungseinrichtungen im Freistaat gemeldet worden. 2022 seien 321 derartige Delikte verzeichnet worden, darunter zehn Verdachtsfälle. Vermutlich sind die Zahlen sogar noch höher, weil nur staatliche Schulen verpflichtet sind, solche Vorkommnisse zu melden. Häuser in freier Trägerschaft können das nach eigenem Ermessen entscheiden.

Meinung zu Gast In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland alle zwei Wochen Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" auch jeden zweiten Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.

Anstieg an Gewalttaten an Schulen ist ein Abbild der gesamtgesellschaftlichen Lage

Das ist ein drastischer Anstieg. Aufs Jahr verteilt gibt es im Schnitt mehr als eine Tat pro Tag. Schläge, Tritte, Übergriffe, Bedrohungen sind also an der Tagesordnung. Hinzu kommen subtilere Arten wie Drohungen und Nötigungen.

Schulen sollten Schutzräume für die Jüngsten unserer Gesellschaft sein.

Marcel Auermann Chefredakteur Verlagsgruppe HCSB

Generell könnte man sagen, dass das ein Abbild der gesamtgesellschaftlichen Lage ist: Da sind die sozialen Medien, in denen zunehmend Gewalt als normal, alltäglich und ständig präsent dargestellt wird. Da sind Krieg, Krisen – und die Nachwirkungen der Umstände in der Corona-Zeit, in der Familien stark gelitten haben, weil sie über Wochen und Monate auf kleinstem Raum zusammenlebten, Frust entstand, weil das individuelle, eigene Leben auch der Kinder völlig eingeschränkt oder nahezu auf null heruntergefahren wurde. Der schulische Druck aber blieb, wenn er nicht sogar durch Distanzunterricht zugenommen hatte. Und da gibt es die soziökonomische Ungleichheit, die zu erhöhter Aggressivität führt.

Gewaltfreie Konfliktlösung muss zu Hause gelernt werden

Von daher muss zu Hause der Grundstein gelegt werden, dass Konflikte mit Respekt und im Gespräch gelöst gehören. Und dass Mobbing kein Freizeitvergnügen darstellt. Viele Mütter und Väter scheinen jedoch selbst mit der Erziehung überfordert.

Erst vor wenigen Tagen hat das Jugendamt des Ilm-Kreises eine Bilanz gezogen, die alarmiert. "Wir haben bei den Hilfen zur Erziehung im Vergleich zum Jahr 2019 einen Anstieg auf 130,7 Prozent gehabt. Die Meldungen zur Kindeswohlgefährdung stiegen auf 115 Prozent, die Inobhutnahmen auf 142 Prozent. Wir haben bei der Heimerziehung eine Steigerung auf 111,4 Prozent, bei den Vollzeitpflegen eine Steigerung auf 110 Prozent", erklärt Erich Rindermann, der amtierende Amtsleiter, im "Freien Wort".

Kindheit hat Auswirkungen auf das gesamte Leben

Dass diese äußeren Umstände in der Kindheit nicht zu unterschätzen sind, hat die Max-Planck-Gesellschaft untersucht. Der sogenannte "lange Arm der Kindheit" ist ein Phänomen, das die anhaltenden Auswirkungen des Umfelds und der Entwicklung in der Kindheit beschreibt. "Die Theorie beschreibt, dass unsere Kindheit zu einem gewissen Maß prägend für das ganze Leben ist", sagt Autorin Laurel Raffington, die die Studie mit Forschenden der University of Texas in Austin, der University of Michigan und der Princeton University durchgeführt hat.

Die Theorie beschreibt, dass unsere Kindheit zu einem gewissem Maß prägend für das ganze Leben ist

Laurel Raffington Forscherin an der University of Texas

Sicher können und müssen Lehrer und Schulsozialarbeiter Grundsätze des würdevollen und höflichen Umgangs untermauern. Auch das gehört zur Bildung und zu dem, was Kinder mit auf den Weg gegeben werden muss. Nirgendwo sonst als in der Schule besteht über einen so langen Zeitraum ein so kontinuierlicher Zugang zu Heranwachsenden. Allein, es fehlt neben Zeit und Geld auch an Personal. Oftmals können offene Stellen nicht besetzt werden, da keine geeigneten Bewerber vorhanden sind.

Förderung von Gewaltprävention ist eine Investition in die Zukunft

Das Thüringer Bildungsministerium hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die auf die gestiegenen Fallzahlen reagieren soll. Irgendwie. Denkbar seien die Schärfung der pädagogischen Interventionsformen, die Überarbeitung von Notfallunterlagen, digitale Hilfsangebote für Schulen und Pädagogen oder ein verbessertes Deeskalationsmanagement. Das klingt alles vage und nach viel Konjunktiv.

Marcel Auermann Chefredakteur HCSB
Bildrechte: Elena Russo

Marcel Auermann Marcel Auermann ist der Gesamt-Chefredakteur der Verlagsgruppe Hof, Coburg, Suhl und Bayreuth. In der Reihe "Meinung zu Gast" kommentiert er als Gastautor Transformations- und Veränderungsthemen in Mitteldeutschland.

Einen eigenen und konkreten Weg hat beispielsweise Sonneberg eingeschlagen. Dort werden Kurse zur Gewaltprävention angeboten. Es soll also möglichst schon etwas getan werden, bevor es zu Ausschreitungen kommt. Anlässlich des Bundesprogramms "Demokratie leben" und des Landesprogramms "Denk bunt" gibt es verschiedene Projekte wie "Gewaltfrei miteinander leben". 2023 kamen so 16 Schulen und rund 400 Schüler in den Genuss von zweitägigen Kursen.

Mit einem neuen Programm will der Bund den Ländern ab Sommer dieses Jahres zusätzlich Fördergeld für schulische Sozialarbeit zur Verfügung stellen. Es wird dringend benötigt. Es ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft – weil Drohungen, Beleidigungen und Gewalt nicht unseren Alltag bestimmen dürfen – egal, ob in der Schule oder anderswo.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 31. März 2024 | 09:35 Uhr

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