Fakt ist! aus Erfurt Ehemaliger Grünen-Chef: Die Partei handelt verantwortungslos

28. Februar 2023, 06:44 Uhr

Anderthalb Jahre vor der Landtagswahl wechseln die Thüringer Grünen ihre beiden Minister aus. Steckt die Partei in der Krise oder gelingt der Neustart? Darüber diskutierten Grünen-Mitglieder und weitere Gäste bei Fakt ist! aus Erfurt.

Der ehemalige Landessprecher der Thüringer Grünen, Rainer Wernicke, hat den jüngsten Ministeraustausch im Land scharf kritisiert. In einer Zeit, in der in Thüringen keine tragfähige politische Mehrheit in Sicht ist, sei es unverantwortlich, seine eigenen Minister zu demontieren, sagte Wernicke im MDR-Polittalk Fakt ist! aus Erfurt am Montagabend.

Der Rückzug der Grünen-Umweltministerin Anja Siegesmund habe ihn irritiert. Entsetzt sei er jedoch bezüglich des geschassten Justizministers Dirk Adams. Für die Koalitionspartner SPD und Linke sei diese Personalrochade "ein Tritt in den Allerwertesten". Der Unternehmer war von 2015 bis 2017 einer der beiden Landessprecher, wie die Vorsitzenden der Grünen in Thüringen heißen. Ende 2017 war er nach einem Streit nicht erneut angetreten und trat kurze Zeit später aus der Partei aus.

Anja Siegesmund hatte im vergangenen Dezember überraschend ihren Rücktritt als Umweltministerin verkündet. Sie gab private Gründe dafür an. Auf sie folgte Bernhard Stengele, Schauspieler und Regisseur aus dem Allgäu, von 2012 bis 2017 Schauspieldirektor am Theater Altenburg-Gera.

Justizminister Dirk Adams war dagegen auf Drängen der Grünen-Spitze gegen seinen Willen im Januar entlassen worden. Für ihn übernahm Doreen Denstädt, Polizeihauptkommissarin und Diplom-Verwaltungswirtin aus Saalfeld. Zuletzt arbeitete sie in der Polizeivertrauensstelle des Thüringer Innenministeriums. Anfang Februar wurden beide Minister vereidigt.

Zweifel an der Qualifikation der neuen Minister

Schon unmittelbar nach der Benennung wurde die politische Befähigung der beiden massiv angezweifelt. Ihnen fehle die nötige Qualifikation für das Amt, hieß es. Ein Vorwurf, der auch immer wieder in der Sendung geäußert wurde, auch von Wernicke, der die Eignung als "fraglich" bezeichnete.

Die aktuelle Landessprecherin Ann-Sophie Bohm entgegnete, "die neuen Minister bringen Erfahrung und Qualifikation mit" - davon sei die Parteispitze überzeugt. Statt der behaupteten Verantwortungslosigkeit habe man Verantwortung übernommen. Bohm sprach auch den Konflikt mit Migrationsminister Adams an, der für sein Handeln bei der Unterbringung von Geflüchteten öffentlich Kritik habe einstecken müssen und mit dem es zu diesem Thema intensive Gespräche gegeben habe.

Tatsächlich beherrschten die Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl, aber auch die Unterbringung der Ukraine-Flüchtlinge in den Kommunen ein ums andere Mal die Schlagzeilen. Der Politikwissenschaftler Lothar Probst, als dritter Gast in der Sendung, bezeichnete die vermeintlich fehlende Eignung des neuen Grünen-Duos als gar nicht mal so ungewöhnlich. Die Hälfte der Minister in Deutschland seien über das Parteibuch ins Amt gekommen und nicht unbedingt qualifiziert.

Wie kam der Ministerwechsel eigentlich an der Basis an? Steffen Fuchs, Grüner Ortsteilbürgermeister von Schnepfenthal in Waltershausen, sagte in der Sendung, persönliche Entscheidungen wie im Falle Siegesmunds seien zu akzeptieren. Anderthalb Jahre bis zur Wahl seien durchaus auch ein Zeitraum, in dem das neue Duo noch Akzente setzen könne.

Felix Kalbe vom Kreisverband Gotha, aus dem inzwischen auch ein Bewerber für die Landesspitze der Grünen kommt, sprach sogar von einem guten Zeitpunkt für einen Wechsel. In Gotha seien Menschen offensiv auf ihn zugegangen und hätten ihn auf Dirk Adams Politik angesprochen. In den Kreisverbänden sei auch viel über die Wechsel diskutiert worden.

Das städtisch-akademische Milieu der Grünen: Elitär?

Ex-Landeschef Wernicke zufolge haben die Basis und vor allem Grünen-Mitglieder auf dem Land nicht viel zu melden. Es dominiere das städtisch-akademische Milieu mit den Kreisverbänden Erfurt und Jena, aus denen sich auch die meisten Funktionsträger rekrutierten, sagte er. Auch die Sprache sei eine andere und werde auf dem Land als elitär wahrgenommen. Traditionell bekommen die Thüringer Grünen in Städten mit den größeren Universitäten mit Abstand die meisten Stimmen. In vielen Kreisen schaffen sie es dagegen kaum über fünf Prozent der Stimmen.

Das ist ein Befund, der aber nicht nur auf Thüringen zutrifft, wie der Politikwissenschaftler Lothar Probst sagte. Deutschlandweit seien die Grünen im urbanen Raum stark, auf dem Land eher nicht so. Außerdem: "Für die Grünen in Ostdeutschland ist es schwer sich zu behaupten." Hier fehlten entsprechende Erfahrungen wie die 68er-Bewegung oder die Anti-Atomkraft-Bewegung, aus denen die Grünen einst hervorgegangen waren, so Probst.

Grüne Inhalte auf dem Land: Realitätsferne?

Abgesehen von Personal und Geschichte - könnten die Thüringer Grünen die Menschen vom Altenburger Land bis zum Wartburgkreis nicht mit Inhalten überzeugen? Nicht nur Parteichefin Bohm, sondern auch Probst stellte fest, dass die Grüne Partei eher wegen ihrer Politik und weniger wegen Personen gewählt wird. Ein Kritikpunkt, der in der Sendung häufiger erwähnt wurde, war die "realitätsferne Politik". Die Landwirtin Simone Hartmann sprach die Lastenfahrräder-Debatte an, das Gendern oder das 49-Euroticket (kaum Nutzen im ländlichen Raum). "Das alles hat mit meinem Leben nichts zu tun", sagte sie.

Und sie sprach von einem Schwarz-Weiß-Denken der Grünen nach dem Motto: Ökolandwirtschaft gut, konventionelle Landwirtschaft schlecht. Landessprecherin Bohm darauf: Gendern und Lastenräder seien nur ein kleiner Teil des Programms. In der Landwirtschaft wolle man grundsätzlich etwas ändern und für faire Löhne kämpfen. Auch Mobilität, Gesundheitszentren oder Gemeinschaftszentren auf dem Land seien wichtige Themen der Thüringer Grünen.

Die neuen Minister Doreen Denstädt und Bernhard Stengele sollen sich Bohm zufolge nun erst einmal beweisen. Es sei auch gar nicht klar, ob sie zur Landtagswahl im kommenden Jahr auch Spitzenkandidaten werden. "Erst einmal müssen sie gute Politik machen."

Das sagen unsere kommentierenden User

Einen "klaffenden Spalt zwischen Theorie und Praxis" sah Peter Pan. "Themen wie das Gendern werden viel zu wichtig genommen, es fehlt das Ohr am Volk. Man will zuviel und zu schnell und sieht nicht, wie es derzeit läuft. Auf dem Land gibt es eine Vielzahl von Problemen, aber wnn man nur ökologische LW oder nur BIO Bauern will, kann das nicht funktionieren wobei die Unterschiede zwischen Bio und normal oft marginal sind." Als Alternative sah sie trotz Bedenken Rolschter: "Viele Menschen in Thüringen, auch ich, suchen nahezu verzweifelt nach einer Partei, die für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Klima- und Umweltschutz steht. Bei der Linken schwurbeln zu viele á la Wagenknecht, die SPD ist oft zu bräsig und die Grünen- naja, das haben wir ja gestern bei Fakt ist diskutiert."

Wenig auszusetzen hatte AlexLeipzig: "Von der unglücklichen Personalpolitik abgesehen finde ich die Grünen aber inhaltlich gut und richtig ausgerichtet. Der Klimawandel ist eines der größten Probleme, die anstehen. Und da bietet keine andere Partei überhaupt nur Lösungsansätze, sondern nur Aussitzen und Lippenbekenntnisse." Matchmaker sah nur "Randthemen" besetzt und kritisierte Wirtschaftsfeindlichkeit: "Alle Ideen, die die Grünen in der Vergangenheit entwickelten, wurden wieder kassiert. Man denke nur an Biodiesel, Erdgasautos, Holzpellets-Heizungen. Plastik durch Papier ersetzen." Aus Sicht von Kleingartenzwerg machten die Grünen "ergebnislose Klientelpolitik an der Mehrheit der Bürger vorbei" und bekämen deswegen ein negatives Meinungsbild. "Die unmögliche Personalpolitik ist da nur das Sahnehäubchen oben drauf." Bert Hellmund kritisierte, dass es schon lange nicht mehr "uralte grüne Inhalte" gehe.

Mehr zu den Thüringer Grünen

MDR (sar)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! aus Erfurt | 27. Februar 2023 | 22:10 Uhr

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