Justizirrtum Unschuldig im Knast: "Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich rauskomme"

23. September 2023, 08:00 Uhr

Axel Silvio Ziemann ist aus Dresden. Er saß fünf Monate unschuldig im Knast - für einen Tankstellenüberfall, den er nicht begangen hat. Damit ist er ein Opfer eines sächsischen Justizirrtums. MDR SACHSEN hat mit ihm über das Erlebte und seine gegenwärtige Situation gesprochen.

Sorgfältig schließt Axel Silvio Ziemann sein Rad an einem Fahrradständer im Großen Garten an. Auch wenn er sich gleich nur wenige Meter entfernt hinsetzen wird, ist ihm das wichtig. In seinen Augen leuchtet es, wenn er von seinen Rädern und seinem Fahrradwerkzeug spricht. Das ist sein Ding.

"Asservat 13" klebt auf dem Fahrrad

In dieser Woche hat er alles aus der Asservatenkammer der Polizei abholen können. Als "Asservat 13" beschriftet noch ein weißer Aufkleber den Fahrradrahmen. Beinahe wären die Sachen verschrottet worden, die man bei der Wohnungsdurchsuchung vor einem Jahr beschlagnahmt hatte, sagt er. Damals war der heute 50-Jährige bei einem anderen Mann in einer Wohnung untergekommen.

Plötzlich gucke ich in drei Pistolen.

Axel Silvio Ziemann

"Ich hatte keine Schlüssel dabei und geklopft - plötzlich gucke ich in drei Pistolen", denkt er zurück. Klar habe sein Mitbewohner die Polizei reinlassen müssen, die hatten ja einen Durchsuchungsbeschluss, fügt Ziemann hinzu. "Die haben die ganze Bude auf den Kopf gestellt."

Auf dem Revier ging es dann weiter: Es wurden Fotos gemacht, Fingerabdrücke genommen. Dass es um einen Tankstellenüberfall ging, habe er damals noch nicht gewusst. Er habe wieder gehen können und es sei bis Dezember Ruhe gewesen.

Weihnachten und Silvester hinter Gittern

Dann kam es zu einer Polizeikontrolle: "Herr Ziemann, Sie müssen zur Klärung eines Sachverhalts mitkommen. Auf dem Revier wurde mir der rote Zettel gezeigt: Haftbefehl. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen." Am 9. Dezember kam der damals 49-Jährige hinter Gitter - als mutmaßlicher Täter eines Tankstellenüberfalls. Die erste Zeit sei hart gewesen, auch wegen der Corona-Quarantäne. Eine Stunde Hofgang, kein Fernsehen, kein Radio, sagt Ziemann.

Auf dem Revier wurde mir der rote Zettel gezeigt: Haftbefehl.

Axel Silvio Ziemann

Er habe immer wiederholt, dass er den Überfall nicht begangen habe, erzählt der Mann. Doch sein Handy wurde in dem Bereich geortet und die Personenbeschreibung passte auf ihn. Dazu wurden DNA-Spuren von ihm an einem Pappkarton gefunden, in dem die Waffe versteckt wurde, wie Bilder der Überwachungskamera von der Tankstelle zeigten.

Ziemann gehe meist mit einer Pappe im Aldi nebenan einkaufen, er habe ja nicht viel, erklärt er. Den Karton habe er dann weggelegt. "Sie brauchen es gar nicht probieren, wir haben ihre DNA, das ist erdrückend", habe es seitens der Polizei geheißen.

Tochter und Ex-Frau unterstützen

Ziemann ist vorbestraft, hatte 2004 wegen Diebstählen und Körperverletzung gesessen und kürzlich drei Monate wegen Geldschulden. "Ich bin nicht stolz darauf." Mit seiner Vergangenheit werde man schnell in ein Loch geschoben, sagt er. "Die haben gar nicht mehr weiter ermittelt."

Meine Tochter hat mich im Gefängnis besucht - ein tolles Mädchen!

Axel Silvio Ziemann

Doch seine Ex-Frau und seine Tochter hielten zu ihm. Als er vergangene Weihnachten nicht vorbeikam, forschte die 16-jährige Tochter nach. "Meine Tochter hat mich im Gefängnis besucht - ein tolles Mädchen!", sagt der Mann mit Nachdruck. Je länger Ziemann saß, um so mehr bohrte bei ihm die Angst, die Vorstellung für Jahre im Gefängnis zu sitzen. "Ich habe gar nicht mehr daran geglaubt, dass ich da wieder rauskomme".

Wahrer Täter sagt glaubwürdig aus

Drei Tage vor dem Prozess geschah ein kleines Wunder: Der tatsächliche Täter gestand. Die Personenbeschreibung passte, auch sein Handy befand sich zur Tatzeit im Funkzellenbereich der Tankstelle. Der drogenabhängige 27-Jährige war wegen zwei Tankstellenüberfällen verhaftet worden und sprach bei seinem Verteidiger von einem dritten Überfall - der, für den Ziemann inzwischen seit fünf Monaten in Untersuchungshaft saß. Der Strafverteidiger wusste zufällig, dass sein Anwaltskollege Ziemanns Akte auf dem Tisch hatte.

So sagte der wahre Täter an Ziemanns erstem Prozesstag glaubwürdig aus. Der 27-Jährige konnte auch sagen, wo die Waffe abgeblieben war. Außerdem stellte sich heraus, dass ein nach dem Überfall eingesetzter Fährtenhund sehr wohl den richtigen Riecher gehabt hatte. Alles fügte sich neu zusammen.

Flur im Hafthaus der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben
Am 9. Dezember kommt Axel Silvio Ziemann in Untersuchungshaft, dort bleibt er bis Mai. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / ari

"Am ersten Verhandlungstag ist meine Entlassung angeordnet worden", sagt Ziemann mit einem Zittern in der Stimme. Er fängt sich schnell und schlägt sich mit der flachen Hand gegen seine Schläfe: "Ich will vorausschauen, aber der Kopf spielt nicht mit."

Schwierige Wohnungssuche

Dann erzählt Ziemann, wie er nach der Entlassung sein Zimmer von vermeintlichen Kumpels restlos geplündert vorfand. "Ich hatte nichts mehr, nicht mal was zum Anziehen. Sogar meine Dartpfeile haben sie mitgenommen."

Ich hatte nichts mehr, nicht mal was zum Anziehen.

Axel Silvio Ziemann

Seitdem kommt der Dresdner mal hier und mal dort unter. Ins Obdachlosenheim will er nicht. Er will einen Neuanfang und sucht eine Zwei-Zimmerwohnung. Als ihn zuletzt ein Vermieter gefragt hatte, was er zuletzt gemacht habe, hatte Ziemann gesagt, dass er unschuldig in Haft saß. Daraufhin habe sich der Vermieter auf dem Absatz umgedreht.

Mit sowas wollen wir hier nichts zu tun haben, hatte es geheißen. Aber er könne doch nicht gleich mit einer Lüge anfangen und das verschweigen, fragt Ziemann im Nachhinein halb unsicher, halb entrüstet.

Monatelanges Warten auf die Haftentschädigung

Der 50-Jährige ist von einer extremen Lebensweise gezeichnet - die Wangen sind eingefallen, der Körper ist hager, zwei Zähne halten im Mund Stellung. Doch im Augenblick wirkt Ziemann durchaus optimistisch. Er will in ein neues Leben starten, sich die Zähne machen lassen, seiner Tochter etwas gönnen.

Die rund 10.000 Euro Haftentschädigung, die ihm zustehen, würden den Start erleichtern. Ziemann versteht nicht, warum er das Geld nach drei Monaten immer noch nicht bekommen hat: "Warum dauert das so lange?"

Eine Anfrage von MDR SACHSEN, warum die Auszahlung bislang nicht erfolgt ist, wurde vom Justizministerium an das Landgericht weiterverwiesen. "Zuständig für Auszahlungen im Entschädigungsverfahren ist die Generalstaatsanwaltschaft Dresden", lautet die Antwort aus dem Landgericht.

Die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte daraufhin dem MDR, dass Ziemann Rechtsanspruch auf Entschädigung aus der Staatskasse hat. Jedoch müsse die Staatsanwaltschaft Dresden erst diesen Anspruch prüfen. Das könne Monate dauern.

"Erst im Anschluss an das Verfahren der Staatsanwaltschaft wird von der Generalstaatsanwaltschaft die konkrete Höhe der Entschädigung geprüft und festgestellt." Eine Prognose, wann die Auszahlung erfolgt, sei nicht möglich.

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Dresden | 22. September 2023 | 06:30 Uhr

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