MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche (Folge 82) Unschuldig hinter Gittern? Warum Fehlurteile in Deutschland schwer zu überprüfen sind
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Wer meint, in einem Strafprozess zu Unrecht verurteilt worden zu sein und eine Neubewertung des Falles anstrebt, hat meist einen langen Weg vor sich. Die Hürden, einen sogenannten Wiederaufnahmeprozess zu bekommen sind hoch und für viele kaum zu stemmen. So kämpft beispielsweise Klaus Bräunig seit den 70ern um eine Wiederaufnahme. Er wurde damals wegen Mordes verurteilt und könnte jetzt nach über 50 Jahren freikommen. Was müsste sich ändern, damit solche Prozesse in Zukunft schneller ablaufen?
Es war ja einfach wie so ein Schock nochmal, und wir hätten es einfach nicht gedacht, dass mein Mann für diese Tat verurteilt wird, die er nicht begangen hat.
Esther Stephan (ES): Anja Darsows Mann Andreas sitzt schon seit 13 Jahren im Gefängnis, und sie ist davon überzeugt: Er sitzt da zu Unrecht. Wenn vor Gericht Fehler passieren, also Menschen möglicherweise schuldig gesprochen werden, obwohl sich dann später herausstellt, dass sie es nicht sind, dann hat das schwerwiegende Folgen für die Betroffenen. Im Fall Andreas Darsow sagt sein Strafverteidiger Christoph Lang:
Wir meinen, dass hier in diesem Verfahren ganz klar der Grundsatz hätte gelten müssen: im Zweifel für den Angeklagten.
ES: Wie kann das sein? Und welche Chance hat überhaupt jemand, der meint, zu Unrecht verurteilt worden zu sein? Also wie leicht ist es, einen sogenannten Wiederaufnahmeprozess zu bekommen? Darüber sprechen wir heute bei "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Hier sprechen wir mit Journalist*innen über ihre Recherchen, das Thema und die Erlebnisse, die sie während der Dreharbeiten gemacht haben. Ich bin Esther Stephan, ich arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks, und ich spreche heute mit der Reporterin Marion Mück-Raab. Hallo Marion!
Marion Mück-Raab (MMR): Hallo Esther!
ES: In deinem Beitrag, der Ende Juli bei FAKT läuft, da geht es um Justizirrtümer, und es geht um Menschen, die im Gefängnis landen, aber der festen Überzeugung sind, dass sie unschuldig sind. Ich habe davon in Deutschland tatsächlich bisher noch kaum was gehört. Wie bist du denn zu diesem Thema gekommen? Oder wie ist das Thema zu dir gekommen?
MMR: Also ich bin Anfang der 90er-Jahre auf die Problematik aufmerksam geworden. Da habe ich in der JVA in Diez gedreht und habe damals einen Gefangenen kennengelernt, den Klaus Bräunig, der mir erzählt hat, dass der 1972 für einen Doppelmord verurteilt wurde und seit 1972 versucht, mit Anwälten da eine Wiederaufnahme zu erreichen, also den Prozess neu aufzurollen. Und damals habe ich mich für die Geschichte interessiert, auch mit dem damaligen Strafverteidiger Kontakt aufgenommen. Und da ist mir das erste Mal sozusagen begegnet, wie schwierig es tatsächlich ist, also eine zweite Instanz zu bekommen. Also quasi noch mal von einem Gericht zu stehen, dass das erste Urteil überprüft, dass die Hürden da extrem hoch sind.
ES: Nur kurz zur Erklärung: Bei dem Fall geht es um Klaus Bräunig. Der ist verurteilt für den Mord an einer Kinderärztin und ihrer Tochter. Und der sitzt bereits seit über 50 Jahren im Gefängnis. Passiert das denn häufig, dass Urteile nochmal neu aufgenommen werden? Also, dass da im Raum steht, dass ein Urteil falsch sein könnte?
MMR: Also es gibt keine Zahlen, keine verlässliche Statistik, wie oft es tatsächlich in Deutschland in einem Strafverfahren zu einem Justizirrtum kommt. Das ist in der Strafjustiz kein Thema. Also die letzte größere Untersuchung, die zu Ursachen für Fehlurteile lief, die stammt aus den 50er-Jahren. Es gibt da keine Fehlerkultur sag ich mal, kein Bewusstsein dafür, dass es tatsächlich eben halt zu falschen Urteilen kommen kann. Ist ganz interessant. Es ist ja im Zivilprozess anders, da gibt es ja eine zweite Instanz. Und da habe ich mal eine Zahl gelesen, dass bei 30 bis 40 Prozent dieser Zivilprozess-Urteile in der zweiten Instanz andere Urteile fallen. Also das korrigiert wird. Da stellt sich natürlich die Frage, um Himmelswillen, wie hoch ist das bei Strafprozessen. Also es gibt immer nur Schätzungen, also ein BGH-Richter hat vor ein paar Jahren mal gesagt, dass er davon ausgeht, dass jedes vierte Urteil im Strafprozess ein Fehlurteil ist. Was ich sehr hoch fände. Aber verlässlich ist das nicht.
ES: Woran liegt das denn, dass man da so wenig darüber weiß?
MMR: Ja gut. Der Rechtsanwalt Gerhard Strate, ein bekannter Anwalt für Wiederaufnahmeverfahren aus Hamburg, hat dazu mal gesagt: die Justiz verteidigt die Rechtskraft eines Urteils mit Zähnen und Klauen. Also wenn ein Urteil einmal gefallen ist, dann wird alles dafür getan, dass es auch Bestand hat. Und eine Wiederaufnahme wird erschwert. Das ist, was ich von Strafverteidigern höre, die sich mit Wiederaufnahmeverfahren befassen, dass es eben in der Praxis extrem schwer ist. Das Problem bei der Wiederaufnahme ist, dass der Verurteilte neue Beweismittel vorlegen muss. Sogenannte Nova. Er muss Dinge präsentieren, die im ersten Prozess noch nicht bekannt waren. Neue Zeuge, neue Beweise oder jetzt auch DNA-Spuren, einfach neue Sachverhalte, die die Richter vorher noch nicht diskutieren konnten. Das muss er präsentieren, um eine Wiederaufnahme durchzusetzen. Und das sind natürlich extrem hohe Hürden. Sowas muss man erst mal finden. So was muss man ermitteln.
ES: Dazu hast du ja auch mit Carolin Arnemann gesprochen. Das ist eine Rechtsanwältin. Und die erzählt, dass es eben wahnsinnig schwierig ist für jemanden, der oder die eben schon verurteilt ist, dann noch mal ein Wiederaufnahmeverfahren zu bekommen. Wie hoch dieser Aufwand tatsächlich ist.
Man führt selbst Vernehmungen durch, man kontaktiert Sachverständige. Und das ist natürlich alles exorbitant viel Aufwand, der damit verbunden ist und für den Mandanten natürlich immer unter der Ungewissheit steht, dass man nicht weiß, ob am Ende des Tages etwas rauskommt, was ausreicht. Für einen Wiederaufnahmeantrag.
ES: Heißt das denn, dass diese zusätzlichen Vernehmungen, die dann da noch einmal durchgeführt werden müssen und die es eben braucht, führt die dann eine Anwältin durch? Oder kann man das auch selber machen oder eben diese Beweise selber sammeln? Und dann ist noch gar nicht sicher, wenn man das dann alles schon gemacht hat, ob dieses Verfahren dann überhaupt wieder aufgerollt wird?
MMR: Also du musst dir die Situation ja so vorstellen: Da ist einer verurteilt. Sagen wir jetzt mal wegen Mordes, lebenslänglich. Der sitzt im Gefängnis, der ist in der Regel in dem Fall schon mittellos. Also der hat kein Geld mehr, um irgendwelche Anwälte groß zu finanzieren, die dann die Ermittlung quasi übernehmen müssen. Also weil der Gefangene selber hat ja keine Möglichkeit, irgendetwas aktiv zu tun. Der kann ja nur versuchen, einen Rechtsanwalt zu finden, was schon schwer ist, weil nicht sehr viele Anwälte in Deutschland Wiederaufnahmeverfahren machen. Einmal weil das sehr spezielle Kenntnisse braucht. Und weil es eben auch Verfahren sind, die sich wirtschaftlich überhaupt gar nicht rentieren. Und dann ist der Anwalt erstmal in der Situation, dass er erst mal die gesamte Aktenlage durchgehen muss, erst mal sich das, was schon sehr viel Arbeit ist, sich überhaupt mal einarbeiten muss in den Fall. Und dann muss er halt drüber nachdenken: Was gibt es denn hier an neuen Ansatzpunkten? Wo sind denn hier Zweifel? Was könnte ich jetzt zum Beispiel mit einem Gutachten nachweisen oder gibt es neue Zeugen. Also der Anwalt ist in dem Moment im Prinzip in der Rolle von einem Privatdetektiv, der neue Sachverhalte suchen muss, der im Prinzip recherchieren muss und am allerbesten zum Beispiel in so einem Mordfall den Täter, den wahren Täter präsentiert. Das ist die Situation. Und und das bedeutet viel Zeit, viel Aufwand. Und in dem Moment, wo Gutachter auch dabei sind, natürlich wieder Kosten. Und das sind die praktische Hürden, die so eine Wiederaufnahme hat. Also einfach ganz praktisch. Man braucht Geld dafür. Man braucht einen Rechtsanwalt, der es kann. Ja das ist die Schwierigkeit.
ES: Und sind das dann Kosten, die diese bereits verurteilten Mandanten auch selber am Ende tragen müssen? Also, wenn du sagst, die haben ja zu dem Zeitpunkt schon enorm viel investiert.
MMR: Also ich gehe davon aus, dass die meisten Versuche Wiederaufnahmen schon an dem Punkt scheitern, dass der Mensch, der verurteilt ist, weder die Mittel hat noch die Menschen hat, die ihn unterstützen, noch den Anwalt hat, der sagt: ich mache das Pro Bono. Daran scheitern schon die allermeisten Wiederaufnahmeverfahren
ES: Im Fall Bräunig, der ja von Caroline Arnemann auch vertreten wird: Was macht es denn in solchen Fällen so schwierig, da wieder ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang zu setzen? Was braucht es da?
MMR: Also ein ganz großes Problem, was die Frau Arnemann im Fall Bräunig hat, ist jetzt mal neben der Tatsache, dass der Fall, also der Mord natürlich 1970 passiert ist und über 50 Jahre zurückliegt. Das ist natürlich erst einmal ein Problem. Aber was ihr die Arbeit natürlich auch sehr erschwert, ist, dass sie die gesamten Spurenakten nicht mehr bekommen hat. Also es gibt keine Verpflichtung der Justiz, zum Beispiel die kompletten Akten nach einem rechtskräftigen Urteil aufzubewahren und dann auch an die Rechtsanwälte auszuhändigen. Also denen die Akteneinsicht zu gewähren. Das heißt über 300 Akten sind nicht nach vorhanden. Und das ist natürlich für eine Anwältin, die sich anschauen will: Was wurde da ermittelt? Was gab's da möglicherweise, an Punkten wo ich? Das ist natürlich unfassbar schwierig. Und das finde ich auch ein Problem, dass solche Akten, auch Aservate, Beweismittel, nicht aufgehoben werden. Dass es da keine Verpflichtungn gibt. Also der Klaus Bräunig betreibt da Versuche, den Prozess neu aufzurollen seit 1972. Also es ist bekannt, da war immer wieder ein Anwalt am Start, der versucht hat, er den Prozess neu aufzurollen. Und dass da Akten nicht mehr vorhanden sind und Strafverteidiger keinen Anspruch darauf haben, diese zu bekommen, das finde ich auch ein Riesenproblem. Und da denke ich auch, dass da etwas passieren müsste. Also dass das gesetzlich geregelt werden müsste.
ES: Der Fall von Klaus Bräunig ist aber ja nur einer von vielen Gerichtsprozessen, die in Deutschland geführt werden. Und da muss es auch nicht immer um Mord gehen. Das sind oft ganz vermeintliche Kleinigkeiten, hinter denen dann aber bewegende Schicksale stecken. Diese Geschichten schaut sich Gerichtsreporterin Conny Hartmann im Podcast "Angeklagt! Spannende Geschichten aus dem Gerichtssaal" an. Und in der neuesten Folge, da geht es zum Beispiel um eine Gesetzesänderung, wegen der viele Menschen auf ihre Ersparnisse in der Direktversicherung Abgaben an die Krankenkasse zahlen müssen. Und einer der Betroffenen, der hat dagegen geklagt und erzählt im Podcast, warum er das ungerecht findet. Den Podcast "Angeklagt!" den finden Sie in der ARD Audiothek und natürlich überall da, wo es Podcasts gibt.
ES: Marion, du hast für deinen Film mit Anja Darsow gesprochen. Die haben wir ganz am Anfang auch schon mal gehört. Und ihr Mann Andreas, der sitzt seit 2011 wegen Mord im Gefängnis. Was ist damals passiert?
MMR: Die Richter sind davon ausgegangen, dass er seine Nachbarn ermordet hat und die Tochter des Chefs verletzt hat. Also es gab drei Opfer, zwei Todesopfer, die schwerverletzte Tochter. Der Andreas Darsow hatte keine Alibi. Das Motiv, was die Richter gesehen haben, war Ruhestörung. Also angeblich sollen seine Nachbarn so laut gewesen sein, dass es immer wieder massiv zu Konflikten kam. Und das sei das Motiv gewesen. Ja, der Fall war umstritten. Es sind Schmauchspuren an seiner Kleidung gefunden worden, zum Beispiel, wo aber nicht wirklich klar war, ob die zum Beispiel aus seiner Bundeswehrzeit stammen könnten. Die Ermittler konnten damals herausfinden, dass von seinem Arbeits-PC aus recherchiert wurde nach Schalldämpfern, selbstgebauten Schalldämpfern. Das war auch ein Indiz, wobei natürlich die Frage war: War er tatsächlich derjenige, der da am PC war? Da gab's dann hinterher auch noch unterschiedliche Zeugenaussagen. Also es war ein sogenannter Indizienprozess, bei dem es sehr viele Zweifel auch gegeben hat. Aber die Richter sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Indizien ausreichend sind, ihn zu verurteilen. Und die Frage ist nun: Haben sich die Richter da getäuscht? Oder haben sich die Richter da nicht getäuscht? Und das ist eben der Punkt, den jetzt auch die Ehefrau von Andreas Darsow, die Anja Darsow auch bringt. Dass sie sagt, wieso gibt es bei so schwerwiegenden Vorwürfen mit so schweren Strafen, nicht eine leichtere Möglichkeit, dass Richter sich sozusagen diese Beweise noch mal anschauen? Das das quasi von einem weiteren Gericht noch mal überprüft wird. Wieso gibt es da nur eine einzige Chance sozusagen? Das ist die Kritik, die dann eben in der Regel von Familien oder eben auch von den Betroffenen kommt. Dass die sagen: Bei einem Zivilprozess kann man sich jahrelang vor Gericht streiten, da geht’s ganz leicht in die Berufung. Hier ist das nicht so.
ES: Mal nebenbei, weil du gerade diese ganzen Begriffe in den Raum geworfen hast. Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Berufung, Revision und Wiederaufnahmeverfahren?
MMR: Also eine Revision, da geht es so um formale Rechtsfehler. Da geht es nicht darum, quasi die Beweise noch mal zu würdigen. Revision guckt nur: gibt's hier irgendwelche Rechtsfehler? Und wenn Nein, dann ist das Urteil rechtskräftig. Und bei der Wiederaufnahme des Verfahrens, da ginge es tatsächlich um eine Beweiswürdigung. Wenn du jetzt vorm Amtsgericht stehst und die fällen da ein Urteil, was dir nicht gefällt und du sagst es nicht richtig, dann gehst du in die zweite Instanz, was man so Berufung nennt. Das ist aber wenn du beim Landgericht stehst, nicht mehr möglich. Da gibt es sozusagen als "Ersatz-zweite-Instanz", nenne ich das jetzt mal so, die Wiederaufnahme. Und für die Wiederaufnahme, braucht es eben die neuen Beweise, die neuen Anhaltspunkte, die man erbringen muss, um das Urteil quasi in Zweifel zu ziehen. Also beim Wiederaufnahmeverfahren brauchst du die neuen Beweise. Ja, das ist das Problem. In der Praxis wird das einfach sehr hoch bewertet. Das ist die Schwierigkeit, dass es regelrecht abgewehrt wird. Es reicht nicht aus, zu sagen: Es gab den Gutachter B, der hat irgendetwas begutachtet, und das vor Gericht präsentiert. Und wenn du jetzt eine Wiederaufnahme willst, dann reicht es nicht, einen neuen Gutachter zu präsentieren, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Sondern dieser Gutachter muss zum Beispiel überlegene Forschungsmittel haben. Also der muss etwas können, was der andere Gutachter da im ersten Prozess nicht konnte. Das ist also ganz schwierig und wird in der Praxis eben dann so ausgelegt, dass die meisten Wiederaufnahmeanträge direkt abgelehnt werden. Und es eben nicht zu einer Wiederaufnahme kommt.
ES: Gäbe es denn, wenn sich am Ende herausstellt, die verurteilte Personen ist doch unschuldig, gäbe es denn dann eine Art Entschädigung für die abgesessene Zeit? Also, weil ich meine, das prägt einen ja auch total, wenn man da Wochen, Monate, Jahre schon im Gefängnis gesessen hat, wird einem ja jetzt mehr genommen als ein paar Monate, als das Geld, das man jetzt investiert hat in dieses wahnsinnig komplizierte Wiederaufnahmeverfahren. Also gibt es dann auch Entschädigungszahlungen, zum Beispiel?
MMR: Also die Entschädigungszahlung laufen sich im Moment auf 75 Euro pro Tag. Die sind erhöht worden vor einigen Jahren. Ursprünglich waren das mal 25 Euro, wobei die Anwälte in Deutschland auch der Meinung sind, 75 Euro am Tag ist immer noch zu wenig, das müssten mindestens hundert sein, das ist also eine Forderung. Aber bei Meine Güte, wie will man so etwas ausrechnen. Also der Manfred Genditzki, der jetzt gerade freigesprochen wurde in München, das war der sogenannte Badewannen-Mord-Prozess, der hat 13 Jahre lang im Gefängnis gesessen. Der hat die Geburt seiner Enkelkinder nicht erlebt. Der hat seine Kinder nicht aufwachsen gesehen. Ja, der kriegt eine Haftentschädigung. Also der ist wegen erwiesener Unschuld freigesprochen worden, gerade letzte Woche. Der wird 75 Euro pro Tag bekommen. Die Anwältin könnte sicher jetzt, das wird sie wahrscheinlich auch tun, so auf wirtschaftliche Verluste, der er ja hatte, also beruflich... Da gehe ich jetzt davon aus, dass sie das versuchen wird. Aber ich meine, wie viel ist es ein Leben wert? Ja, der Klaus Bräunig, der von der Carolina Arnemann vertreten wird, der sitzt seit 53 Jahren im Gefängnis. Die Frau Arnemann hat jetzt einen Wiederaufnahmeantrag eingereicht, weil es da auch neue Hinweise gibt auf einen anderen möglichen Täter, weil sie auch weitere Anhaltspunkte und Gutachten hat, mit denen sie die Wiederaufnahme begründen kann. Nehmen wir mal an, das wäre ja echt ein Sechser im Lotto, der Wiederaufnahmeantrag würde angenommen, nehmen wir mal an, es käme zur Wiederaufnahme und der Klaus Bräunig würde freigesprochen werden, wenn er das mit seinen fast 80 Jahren dann noch erlebt. Solche Verfahren dauern. Ja, dann hat er Anspruch, ich weiß es nicht, eineinhalb Millionen? Ich hab’s mal ausgerechnet. Was ist ein Leben wert, was angenommen wurde? Ich weiß es nicht. Ich meine, das sind Tragödien, von denen ich denke, dass die Justiz alles tun müsste, um die zu vermeiden. Also sich sehr viel aktiver auch mit Ursachen auseinandersetzen. Wie kommt es überhaupt zu Fehlurteilen? Also zum Beispiel ist das Problem des falschen Geständnisses, dass Menschen einen Mord gestehen, den sie gar nicht begangen haben. Das fragt sich ja jeder: Wie kann das sein? Aber das passiert ja. Das sind Menschen, die sind nicht besonders intelligent, die sind so einer polizeilichen Vernehmung nicht gewachsen. Die denken, ich war’s ja nicht, ich gestehe, das kommt ja eh raus, ich will meine Ruhe haben, ich will nicht mehr. Das passiert leider. Das sind so Dinge, mit denen sich, denke ich, so eine Justiz viel mehr befassen müsste, mit der Problematik von Zeugenaussagen. Und natürlich auch mit dem Punkt, dass es von diesen Strafprozessen zurzeit überhaupt keine Protokolle gibt. Also der Richter stützt sich einzig und allein auf seine handschriftlichen Notizen, wenn er so ein Urteil dann fällt, nach einem wochenlangen Prozess mit Gutachtern, mit Zeugen. Das finde ich, ist auch eine Fehlerquelle, die dringend beseitigt werden müsste.
ES: Lasst es uns noch mal ein bisschen aufdröseln. Also gibt da diesen ganz kuriosen Fall von dem hast du mir im Vorgespräch erzählt. Und das ist der Mordprozess um Rudolf Rupp und der zeigt ja, wenn ich das richtig verstanden habe ganz gut, wie schwer es tatsächlich ist, ein Wiederaufnahmeverfahren zu kriegen. Selbst auch in Fällen, wo es eigentlich ganz klar erscheint. Magst du davon noch mal ein bisschen erzählen?
MMR: Also der Fall vom Bauer Rupp ist ja ein sehr spektakulärer Fall. Der Mann ist 2001 spurlos verschwunden, wurde zuletzt in einem Gasthaus gesehen, das er wohl auch sehr betrunken verlassen haben soll. Er war bekannt als Familientyrann. Und da war natürlich die Vermutung, dass seine Familie ihn irgendwie ermordet hat naheliegend. Jedenfalls sind die vernommen worden. Und haben dann auch gestanden, dass sie ihn erschlagen haben, zerstückelt haben und anschließend an die Schweine und Hofhunde verfüttert haben. Also wirklich echt, sehr martialisch. Also seine Ehefrau ist verurteilt worden, wegen Totschlag war das, und der Verlobte ihrer Tochter. Jedenfalls 2005 war das Urteil. 2009, vier Jahre später haben Sie den Mann gefunden. Da ist der tot mit seinem Wagen aus der Donau geborgen worden und die Vermutung, dass der einfach betrunken an dem Abend in die Donau gefahren ist war also mehr als naheliegend. Was auf jeden Fall nachweisbar nicht der Fall war, war, dass er erschlagen, zerstückelt und verfüttert wurde. Jetzt denkst du natürlich: Okay, in so einem Fall kann ja eine Wiederaufnahme kein Problem sein. Es ist ein Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses gestellt worden und abgelehnt worden erstmal. Was ich unglaublich finde und was auch zeigt: Was soll man denn noch an Beweisen bringen, um die Wiederaufnahme zu erreichen? Also wenn nachweisbar der Mann tot im Auto in der Donau geborgen wird und nachweisbar so ein Tatverlauf, wie er vom Gericht festgestellt wurde, so nicht passiert ist. Letztendlich kam es dann irgendwann zu dieser Wiederaufnahme, und es kam dann auch zu einem Freispruch. Und soweit ich weiß, sind die damals kaum entschädigt worden. Die hatten ja ihre Strafe abgesessen zu dem Zeitpunkt, weil man ihnen so eine Mitschuld gegeben hat am Zustandekommen dieses Fehlurteils eben aufgrund des falschen Geständnisses. Aber auch das waren Menschen, die einfach der Situation nicht gewachsen waren. Und da gibt es auch Videos, die man im Netz finden kann, die die Vernehmungen zeigen, wo man sich dann auch fragt: Meine Güte, wie sind die denn da vernommen worden?
ES: Aber Videos sind eigentlich ein ganz guter Stichpunkt. Du hattest du vorhin nämlich auch schon angerissen. Also die Frage danach, wie man nachvollziehen kann, wie eigentlich ein Urteil zustande gekommen ist. Um dann wiederum sagen zu können: ist hier eigentlich eine Wiederaufnahme vielleicht auch angebracht? Es gibt ja zum Beispiel bis heute noch keine Videoaufnahmen aus Gerichtsälen, oder?
MMR: Nein. Der Bundesjustizminister hat Ende letzten Jahres einen Gesetzesentwurf vorgelegt, um Audio- und Videoaufnahmen im Strafprozess zu ermöglichen. Das wurde nach massiven Protesten aus den Bundesländern und auch vom Deutschen Richterbund jetzt modifiziert. Also jetzt liegt nur noch ein Entwurf vor, wonach es nur noch Audioaufnahmen geben soll. Und auch da gibt es jetzt auch ganz viele Einschränkungen. Unverständlicherweise, weil in den meisten europäischen Ländern ist es üblich, dass solche Verfahren aufgezeichnet werden. Und ich denke, es ist auch nötig. Ich habe von Gerichtsgutachtern gehört, dass es immer wieder passiert, dass das, was sie vor Gericht ausgesagt haben, im Urteil falsch wiedergegeben wird, also dass das Gegenteil sogar wiedergegeben wird. Ich habe von Strafverteidigern gehört, dass sie Zeugenaussagen, vollkommen anders verstanden haben, als sie dann sich im Urteil wiederfinden. Aber es gibt keine Protokolle, mit denen man jetzt nachweisen könnte, was denn wirklich gesagt worden ist. Und ich gehe jetzt mal davon aus, dass das natürlich kein böser Wille ist von den Richtern, sondern dass es einfach auch eine Überforderung ist, wenn du das Verfahren leitest, musst du dann noch Notiz zu machen, musst vielleicht sehr komplexe Gutachter-Ergebnisse verstehen. Und wenn es Aufzeichnungen gäbe, dann wäre das eben einfacher nachvollziehbar. Und wäre im Übrigen auch für Anwälte, die Wiederaufnahmen anstreben, auch wichtig. Weil du musst ja zum Beispiel auch nachweisen: Ich habe jetzt einen Zeugen, sagt der jetzt wirklich etwas Neues? Sagt der etwas, was im Strafprozess noch nicht berichtet wurde. Ist das etwas Neues, das kann der Strafverteidiger ja auch kaum nachweisen. Das könnte er aber, wenn es solche Dokumentationen gäbe.
ES: Und warum gibt es die nicht?
MMR: Ja, also ich denke mal, die Richter sagen, es würde die Wahrheitsfindung gefährden. Kann ich nicht. Sehen. Es gibt die Problematik von Persönlichkeitsrechten. Das wird auch so argumentiert, dass man sagt: Ein Zeuge, der würde, wenn er wüsste, dass alles, was er jetzt sagt, aufgenommen wird, das würde sein Aussageverhalten vielleicht ändern. Es muss sich nicht jeder filmen lassen. Also solche Sachen. Auch die Angst, die ich auch noch einmal verstehe, aber das könnte man auch sicher in den Griff kriegen, die Angst, dass solche Videos dann im Netz kursieren könnten. Bei den Bundesländern die Kosten. Die haben ganz große Angst vor den die Kosten, vor dem Aufwand, den das bedeutet. Aber ich frage mich, wieso kriegen wir das nicht hin, was in allen anderen Ländern in Europa ja auch üblich ist. Und im Jahr 2023, wo jeder auf Schritt und Tritt gefilmt wird, also kann ich nicht nachvollziehen, dass man bei Verfahren, die so tief in die Rechte von Menschen dann auch eingreifen, es geht ja um Freiheitsstrafen, dass man da nicht solche Verfahren noch aufnimmt und transparenter macht für alle.
ES: Marion Mück-Raab, danke, dass du dir die Zeit genommen hast.
MMR: Ich danke euch für euer Interesse.
ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ – Hinter der Recherche". Der Film über Justizirrtümer der läuft Ende Juli bei FAKT im Ersten. Und Sie finden ihn dann im Anschluss in der ARD Mediathek.
Da finden Sie übrigens auch den Vierteiler über Klaus Bräunig, den Marion Mück-Raab zusammen mit Björn Platz gemacht hat, und zwar in der Reihe ARD Crime Time unter dem Titel "Lebenslänglich".
Nächstes Mal hören Sie dann an dieser Stelle wieder meine Kollegin Secilia Kloppmann, das ist dann in zwei Wochen, am 28. Juli. Da geht es um Zwangsarbeit politischer Häftlinge in DDR Gefängnissen.
Machen Sie es gut!
Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR Investigativ - Hinter der Recherche | 14. Juli 2023 | 12:00 Uhr