Gewalt gegen Frauen Sexuelle Ausbeutung dominiert Menschenhandel in Sachsen

25. November 2023, 08:00 Uhr

Eingekaufte Frauen aus Osteuropa, Sexarbeiterinnen, die ohne Pass und in organisierten Strukturen von Bordellwohnung zu Bordellwohnung gekarrt werden, Zwangsprostitution, Sklaverei und Arbeitsausbeutung – Menschenhandel macht auch vor dem oft als idyllisch beschriebenen Freistaat nicht halt. Sozialpädagogin Ulrike Richter von der Beratungsstelle "Kobranet" kritisiert mangelndes Problembewusstsein bei Staatsanwaltschaften in Sachsen sowie eine schlechte Ausstattung der Polizei.

Ulrike Richter muss sich sofort an die 19-jährige Bulgarin erinnern: Als Kind von der Mutter verstoßen, wuchs das Mädchen in einem Kinderheim in Bulgarien auf. Als sie 18 Jahre alt wird, muss sie das Kinderheim verlassen. Sie weiß nicht, wohin sie gehen soll und kehrt zu ihrer Mutter zurück. Diese will Geld mit ihr verdienen, zwingt sie zur Prostitution. Als sich die 19-Jährige dagegen stemmt, verkauft sie ihre eigene Tochter an ein bulgarisches Menschenhändler-Paar in Chemnitz.

Zwang zur Prostitution ohne Kondom

Das nimmt ihr den Pass ab und zwingt sie in Wohnungen in der Augsburger- und der Claußstraße in Chemnitz zur Prostitution ohne Kondom. Schließlich gelingt der Polizei die Befreiung der jungen Frau. Das Paar flüchtet nach Bulgarien, kann jedoch mit internationalem Haftbefehl gefasst werden und muss sich im September 2022 vor dem Amtsgericht Chemnitz verantworten. Dort gesteht das Menschenhändler-Paar seine Taten und wird verurteilt. Als die 19-Jährige davon erfährt, bricht sie in Tränen aus. Eine Schilderung der Taten bleibt ihr im Gerichtssaal erspart.

Gutes Beispiel für optimale Zusammenarbeit

So traurig ein solcher Fall ist, für Ulrike Richter ist er ein gutes Beispiel, wie der Kampf gegen Menschenhandel erfolgreich gelingen kann. "Hier kann man sehen, was mit einer guten Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwalt, schnellen Reaktionen und einem internationalen Haftbefehl alles möglich ist", erklärt die Sozialpädagogin, die seit 25 Jahren im Bereich Menschenhandel arbeitet und schutzbedürftige Frauen berät und unterstützt.

Hier finden Frauen Hilfe KOBRAnet - Leipzig
Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel
Tel.: 0341/30682929

KOBRAnet -Dresden
Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel
Tel.: 0351/87323610

Ein einziger Beamter in Dresden für Menschenhandel zuständig

Für Richter gibt es solche Erfolgsmeldungen jedoch "leider viel zu selten". Sie kritisiert ein mangelndes Problembewusstsein bei vielen Staatsanwaltschaften in Sachsen und eine schlechte Ausstattung der Polizei. "Bedauerlicherweise gibt es bei der Polizei viel zu wenig Ressourcen zur Verfolgung von Menschenhandel", erklärt die Fachberaterin von "Kobranet" MDR SACHSEN. "In Dresden ist zum Beispiel nur ein einziger Beamter für die ganze Stadt zuständig. Wie wollen Sie hier etwas erfolgreich ausrichten?" Die Zusammenarbeit mit der Polizei habe sich zwar verbessert, doch bei der personellen Ausstattung sei noch "viel Luft nach oben".

Bedauerlicherweise gibt es bei der Polizei viel zu wenig Ressourcen zur Verfolgung von Menschenhandel.

Ulrike Richter Kobranet

"Staatsanwaltschaften, die fast alles einstellen"

Sehr viel Luft nach oben sieht die Fachberaterin auch in den Gerichten. "Wir erleben hier ein mangelndes Problembewusstsein bei der Justiz", kritisiert Richter im Gespräch mit MDR SACHSEN. "Wir haben Staatsanwaltschaften, die fast alle Fälle einstellen, die auf ihrem Tisch landen." Niemals habe sie einen sächsischen Staatsanwalt einmal bei einer bundesweiten Fortbildung zum Thema Menschenhandel erlebt. "Ich sehe hier mangelndes Interesse der Staatsanwaltschaften für Weiterbildung", sagte Richter.

Wir erleben hier ein mangelndes Problembewusstsein bei der Justiz. Wir haben Staatsanwaltschaften, die fast alle Fälle einstellen, die auf ihrem Tisch landen.

Ulrike Richter Kobranet

Dunkelziffer bei Menschenhandel besonders hoch

Menschenhandel ist laut Richter auch in Sachsen weiter aktuell. Nach Angaben der Fachberatungsstelle "Kobranet für die Opfer von Menschenhandel und Betroffene von Gewalt im Name in Ehre" hat es im Freistaat im Jahr 2022 insgesamt 28 Fälle von Menschenhandel gegeben. Davon hätten vier Fälle die Ausbeutung durch Arbeiten betroffen sowie 24 Fälle sexuelle Ausbeutung. Die Zahlen des Landeskriminalamtes seien mit 13 Fällen von Menschenhandel traditionell niedriger. Nicht alle Betroffenen wenden sich laut Richter an die Polizei. Nicht aus allen Meldungen entstünden Ermittlungsverfahren. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer im Bereich Menschenhandel besonders groß ist." Die Tendenz sei jedoch im Vergleich zu den vergangenen Jahren etwa gleichbleiben. Arbeitsausbeutung betreffe besonders die Fleischindustrie, die Pflege sowie Erntehelfer.

Wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer im Bereich Menschenhandel besonders groß ist.

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Nachrichten

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MDR FERNSEHEN Di 11.01.2022 17:48Uhr 18:29 min

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In Sachsen dominiert sexuelle Ausbeutung

"In Sachsen dominiert im Menschenhandel die sexuelle Ausbeutung", erklärte Richter. Besonders Frauen aus Nigeria und Kamerun seien betroffen, doch auch Frauen aus Mittel- und Osteuropa sowie Vietnam und China. "Es betrifft fast immer Frauen, manchmal auch Transfrauen", sagte Richter. "Dieses Jahr haben wir den ersten Mann beraten. Er wurde von anderen zur Prostitution gezwungen."

Frauen werden Sex-Sklavinnen auf der Flucht

Die Beratungsstelle "Kobranet" unterscheidet laut Sozialpädagogin Richter, zwischen Frauen, die in Sachsen zum Opfer werden und Frauen, die auf der Flucht in die Hände von Menschenhändlern gerieten. "Viele junge Frauen aus Nigeria und Kamerun werden auf ihrer Flucht über Nordafrika in Libyen festgehalten", erläuterte Richter. "Dort werden sie massiv ausgebeutet und monatelang als Sexsklavinnen gehalten."

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Sexarbeit in Sachsen mehrheitlich in Wohnungsbordellen

In Sachsen zeigt sich Sexarbeit und auch Zwangsprostitution vor allen in Wohnungsbordellen, erklärt Fachberaterin Richter. Mit ihren Kollegen sucht sie Frauen auf und bietet ihnen Beratung und Hilfestellungen an. "Wir haben einen großen Pool an Adressen, die wir regelmäßig abfahren. Allerdings ist es viel schwieriger geworden, die Sexarbeiterinnen in den Wohnungen zu finden", sagte Richter. Seit der Corona-Pandemie seien viele feste Wohnungen aufgegeben worden.

Airbnb-Wohnungen für Prostitution angemietet

Stattdessen würden viele Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ihre Dienste in Airbnb-Wohnungen oder Ferienwohnungen feilbieten. Adressen würden nur direkt an Freier ausgegeben, doch "Fake-Anrufe machen wir grundsätzlich nicht". Richter erklärte: "Die Wohnungen sind damit nur eine bestimmte Zeit belegt und werden anschließend wieder an Feriengäste vermietet." Alles funktioniere zunehmend hybrid. Das mache es schwer, die Frauen aufzusuchen, um ihnen Hilfe anzubieten.

Große Spannbreite von freiwilliger Sexarbeit bis Zwangsprostitution

Richter von "Kobranet" stellt jedoch gerade im Hinblick um den aktuellen Streit um Prostitution klar: "Wir haben eine akzeptierende Haltung. Wir akzeptieren Prostitution. Wir lehnen auch das nordische Modell ab, bei dem Freier bestraft werden", sagte Richter MDR SACHSEN. Wichtig sei ihr und den anderen Mitarbeitern der Fachberatung die Bekämpfung des Menschenhandels. "Die Sexarbeit und Prostitution ist ein riesiges Feld. Das reicht von der selbstbestimmten Freiberuflerin bis zur Zwangsprostituierten, der der Pass abgenommen wird, die eingesperrt wird und sexuelle Dienstleistungen ohne jedwede Mitbestimmung anbieten muss."

Handlungsbedarf sieht auch Justizministerin Katja Meier (Grüne)

Handlungsbedarf in Sachen Menschenhandel und Gewaltschutz für Frauen sieht auch Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne). Es sei dringend erforderlich, Hilfsstrukturen auszubauen", erklärte Meier MDR SACHSEN. Dies sei zwar bereits geschehen, müsste aber in Zukunft weiter passieren. So habe "Kobranet" zusätzliche Mittel erhalten, auch die Frauenschutzhäuser in Sachsen.

Katja Meier, Staatsministerin der Justiz und fuer Demokratie, Europa und Gleichstellung von Sachsen, spricht zu den Medien im Rahmen der Sitzung des Bundesrates in Berlin.
Justiz- und Gleichstellungsministerin Katja Meier will die Hilfsstrukturen für Frauen in Not ausbauen. Bildrechte: imago images/photothek

"Die Plätze reichen nicht. Wir sind bei der flächendeckenden Hilfe große Schritte vorangekommen, doch der Bedarf ist viel höher. Deswegen umso wichtiger dass wir in den nächsten Haushalt mehr Geld zur Verfügung zu stellen", sagte Meier.

Informationen zu Gewaltschutz in Sachsen

Wo Frauen Hilfe finden, erfahren Sie auf dieser Seite.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 21. November 2023 | 20:00 Uhr

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