Kritik "Goldie" am Schauspiel Leipzig: Ein Theaterabend mit Avatar und KI
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15. Januar 2024, 13:43 Uhr
Eine trauernde Frau lässt ihren verstorbenen Freund als Avatar wieder auferstehen – doch die Trauerarbeit in der virtuellen Realität hat ihre Tücken. Davon erzählt das Stück "Goldie. Ein digitales Requiem" am Schauspiel Leipzig. Autor und Regisseur Emre Akal arbeitet in seiner Inszenierung mit Greenscreen, VR-Brille und künstlicher Intelligenz. Das Publikum erlebt eine live produzierte Theaterarbeit mit einem Avatar im Ensemble. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine.
- Regisseur Emre Akal experimentiert in seinem Stück "Goldie" mit virtuellen Realitäten.
- Das Publikum sieht live dabei zu, wie ein Avatar erzeugt wird.
- Die Auftragsarbeit für das Schauspiel Leipzig erzählt von Selbstbetrug und einem Hamster.
Murat ist tot. Autounfall. Und nun wandelt Murats Freundin (Alina-Katharin Heipe) mit VR-Brille in einem grünen Kubus umher, bewegt sich wie betrunken, blind, schlafwandlerisch. Das Publikum sieht auf einer Projektionswand, was sie sieht: Eine KI reinszeniert das Setting des ersten Dates bei ihr zu Hause. Und es reinszeniert ihn, Murat, ein Buchautor.
Murats Avatar wird live auf der Projektionswand gesteuert: Hinter der Projektionswand ist eine Greenbox, in die das Publikum hineinschauen kann. Darin: Schauspieler Wenzel Banneyer im Greensuit, der eine Kamera mit Mimik und gesprochenem Text speist. Das Publikum kann sehen, wie er das Gesicht von Murats Avatar live bewegt. Den Körper steuert Schauspielerin Nicole Widera, auch in Greensuit gekleidet, mit Bewegungssensoren an Armen und Beinen.
Regisseur Emre Akal experimentiert nicht zum ersten Mal mit virtuellen Realitäten auf der Bühne. Seit einigen Jahren tritt er einen Siegeszug mit seinen Stücken im deutschen Sprachraum an: Münchner Kammerspiele, Thalia Theater Hamburg, Gorki Theater Berlin, Stuttgart, Wien. In Leipzig hält ein Hamster das Gleichgewicht mit der analogen Realität. Das unrelevanteste Haustier deutscher Familien plötzlich als Zünglein an der Waage.
Selbstbetrug mit und ohne Virtual Reality
Hamster Goldie, gespielt von Niklas Wetzel, korrumpiert mit neckischem Verstand den Eindruck, die Freundin würde dort dem Verstorbenen begegnen. Er weiß, was Murats Freundin schon zu seinen Lebzeiten nicht verstanden hat: Die zwei betrügen sich selbst. Und sie kann auch nach seinem Tod nicht damit aufhören. Mit verkopftem Text mäandert Alina-Katharin Heipe über die Bühne, sucht nicht den Abschied von ihrem Freund, sondern nach Antworten, die er ihr schuldig geblieben ist – das Programm scheitert subtil an ihr.
Ihr Hamster hätte ihr diese teure Irrfahrt erspart. Er ist seiner Halterin drei Schritte voraus. Niklas Wetzel kratzt sich beim Publikum ein, gewieft, humorvoll, spontan im Spiel. Sein Szenenapplaus war mehr als angebracht. Der Hamster gibt zu: Selbstverarsche ist menschlich. Goldie onaniert und, ja, auch Onanie ist Selbstbetrug. Aber wenigstens kostet sie nicht so viel. An ihm zeigt sich der Bruch der Realitäten: Was für ein Aufwand, um eine computergenerierte Simulation zu erschaffen. Und teuer ist sie obendrein. Jede Erinnerung, Strandurlaub, Paris, Wandern in den Bergen kostet extra.
Regisseur Emre Akal experimentiert nicht zum ersten Mal mit virtuellen Realitäten auf der Bühne. Seit einigen Jahren tritt er einen Siegeszug mit seinen Stücken im deutschen Sprachraum an.
Mensch, Maschine und ein intelligenter Hamster
Transhumanismus ist von gestern. Es gibt Menschen und es gibt Maschinen. Dazwischen nichts, nur Daten. So kann der fulminante Auftritt des Hamsters als Terminator durchaus verstanden werden: Verloren in Wut, emotionaler Knechtschaft und Einsamkeit lässt er blicken, dass Lebewesen ihren Puls zugunsten von Steuerungstechnik aufgeben möchten.
Aber auch dieser besonders intelligente Hamster bleibt in seiner Schrulligkeit ganz analog. Das gesamte Stück über bleibt er offen für das Publikum, während seine Halterin hinter ihm in ihrer digitalen Bubble verspätete Beziehungsarbeit leistet. Diese Spannung ist ein genialer dramaturgischer Dreh Akals, den er in vielen Facetten ausspielt. Schließlich wird klar: Wir brauchen keine digitale Technik, um uns gegenseitig zu erfinden und aufs Glatteis zu führen.
"Goldie": Keine Angst vor einem traurigen Abend
Mit Themen wie Verlust, Trauer oder Einsamkeit berührt dieses Stück nicht. Durch großes Leid muss Alina-Katharin Heipe nicht gehen. Die Animationen, die projizierten Settings und auch Murats Avatar wirken bei aller technischer Raffinesse holzschnittartig, lassen aber das Spiel einer Schauspielerin mit einer computergenerierten Projektion durchaus zu.
Zudem befreit der Humor den Kopf fürs neutrale Beobachten. "Goldie. Ein digitales Requiem" kann Fragen stehen lassen. Fragen wie: Können wir zumindest einen Teil von Trauerarbeit außerhalb von uns selbst bewältigen? Oder findet sie doch ausschließlich hinter unseren Augen statt?
Angaben zum Stück
"Goldie. Ein digitales Requiem"
Text & Regie: Emre Akal
Bühne & Kostüme: Sabine Born
VR-Design & Programmierung: Paul Schengber, Emma Chapuy
Musik: Sophie Constanze Polheim, Henrik Rohde
Dramaturgie: Marleen Ilg
Mit: Wenzel Banneyer, Alina-Katharin Heipe, Niklas Wetzel, Nicole Widera
Uraufführung am 13. Januar 2024
weitere Termine: 20. Januar, 1. Februar 2024, 20 Uhr Diskothek
Redaktionelle Bearbeitung:lig
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Januar 2024 | 08:40 Uhr