Interview Sexualisierte Gewalt: "Die Täter und Täterinnen sind unter uns"
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04. Februar 2023, 10:27 Uhr
Aktuell kursieren Meldungen, dass Kinder in der Nähe von Schulen von Fremden angesprochen werden. Wie können Kinder aufgeklärt und gestärkt werden? MDR SACHSEN sprach mit Paula Adam von der Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche "Shukura" der Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Frau Adam, aktuell kursieren in Sachsen Berichte, dass Kinder auf dem Schulweg von Fremden angesprochen werden. Die Polizei hat keinen Fall bestätigt, trotzdem sind Eltern und Kinder verunsichert. Was tun?
Ja, die Meldungen sind auch bei uns angekommen. Es gibt immer wieder Phasen, in denen solche Mitteilungen gehäuft kursieren. Kinder würden auf den Schulweg angesprochen, es seien Autos gesichtet worden, die um die Schulen herumfahren und Männer, die probieren würden Kinder anzusprechen. Ich kann hier nur deutlich ans Herz legen: Geben Sie solche Hinweise so schnell wie möglich an die Polizei und nicht in Social-Media-Kanäle. Gerade wenn solche Fälle gehäuft auftreten kann die Polizei ganz anders agieren.
Gibt es solche Hinweise häufig?
Es tritt immer mal wieder auf, viele Schulen können das bestätigen, sie kennen das. Deswegen ist es ja so wichtig, sich bei der Polizei zu melden und beispielsweise Beschreibungen über das Auto weiter zu geben. Doch hier ist eine Einordnung ganz wichtig. Natürlich gibt es sexualisierte Gewalt, die von Fremdtätern und Fremdtäterinnen ausgeht, doch das ist eine große Minderheit. Der Sexualverbrecher, der Kinder in das Auto zerrt, ist vor allem eine große mediale Schublade, die immer für viel Erschrecken sorgt. Die Einordung ist hier jedoch ganz wichtig. Die meiste sexualisierte Gewalt findet durch Personen des nahen Umfeldes ab. Die Mehrheit der Täter und Täterinnen liegt im nahen Umfeld des Kindes.
Was bedeutet Mehrheit?
Etwa 80 bis 90 Prozent der Täter sind den Kindern bekannt. Sexualisierte Gewalt umgibt uns. Die Täter und Täterinnen sind unter uns. Das sind Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, ErzieherInnen, Menschen aus der Schule, der Kita, dem Sport-oder Musikverein - also dem Nahraum der Kinder.
Sexualisierte Gewalt ist immer noch ein Tabuthema, deswegen ist es ja so wichtig, die Kinder aufzuklären und in ihren Rechten zu bestärken.
Es hilft also mit dem Kindern über alles zu reden?
Unbedingt! Aufklärung und ein guter Kontakt mit den Kindern sind essentiell. Wichtig ist auch, den Kindern zu erklären, dass sie Grenzen setzen können. Ihr Körper gehört ihnen und sie können selbst darüber bestimmen. Das müssen auch Mama, Papa, Oma und Opa akzeptieren – das gilt für alle, auch für die Familie.
Was können Eltern weiter tun?
Sie können Ihrem Kind signalisieren: "Egal, was Dir passiert ist, Du darfst immer darüber erzählen." Manchmal reden Kinder trotz Belehrungen mit Fremden. Oft haben sie dann Hemmungen, sich zu offenbaren, weil sie das Gefühl haben, sie hätten etwas falsch gemacht. Sie fühlen sich dann schuldig. Hier sollten Eltern den Kindern erklären, egal, was Ihnen widerfahren ist, sie haben keine Schuld daran. Kinder sind ja oft sehr loyal und behalten viel für sich. Hier muss ganz klare Botschaft sein, sie können alles erzählen, auch die schlechten Geheimnisse.
Das klingt logisch…
Sie sollten Ihre Kinder auch darin bestärken, auf die eigenen Gefühle zu hören. Wenn ihr Bauchgefühl sagt, 'mit dem Mensch fühle ich mich nicht wohl', sollten sie darauf hören. Gefühle sind richtig und wichtig, sie sollen ernst genommen werden. Es ist ok, wenn ein Kind einer Kontaktaufnahme nicht zustimmt und in diesem Moment die Höflichkeit nach hinten stellt.
Was raten Sie Kindern konkret?
Weiterlaufen, weggehen, nicht ins Gespräch gehen auch wenn dies unhöflich erscheint - alles ist erlaubt. Kinder können sich auch weiteren Erwachsenen anvertrauen und vielleicht schon in der Schule erzählen, was auf dem Weg passiert ist, nur so kann die Polizei zeitnah handeln.
Manche Kinder haben Angst ihren Schulweg zu gehen, nachdem sie angesprochen wurden…
Haben Kinder Angst oder sind skeptisch, kann es ihnen helfen gemeinsam mit Freunden zur Schule zu gehen. Es hilft auch, ein Handy einzustecken, den Schulweg abzulaufen, um zu sehen, wo es Geschäfte gibt, in denen man sich Hilfe suchen könnte. Möglich ist auch, eine fremde Person um Hilfe zu bitten, die sympathisch scheint.
Wie soll das gehen?
Beispielsweise kann ein Kind sich an der Ampel neben eine ihm vertrauenswürdige Person stellen und sie um Hilfe bitten. Alles ist hilfreich, damit sich die Kinder sicherer fühlen. Wichtig sind auch klare Informationen der Eltern, wie eine Ansprache durch Fremde erfolgen kann.
Wie kann diese erfolgen?
Zum Beispiel: "Du, Deine Mutter liegt im Krankenhaus, soll ich Dich dorthin fahren." Eltern können hier ihren Kindern ganz klar erklären, dass dies nicht passieren wird. Es wird keine fremde Person kommen und erzählen, dass die Mutter im Krankenhaus ist und dann auch noch dorthin fahren.
Gibt es weitere Beispiele?
Oft wird auch etwas versprochen. Es werden Bilder von Katzenbabys gezeigt oder mit Geschenken gelockt. Hier ist die ganze Bandbreite vertreten. Den Kindern muss hier verdeutlicht werden: "Warum sollte eine fremde Person dir ein Smartphone schenken." Nur wenn kein Tabu aus dem Thema gemacht wird, bekommen Kinder das Gefühl, dass sie offen darüber reden können.
Viele Eltern sorgen sich, mit der Aufklärung über Missbrauch zu ängstigen?
Diese Sorge ist unberechtigt. Es geht nicht darum Horrorszenarien aufzumachen, sondern einfach über die Realität zu sprechen. In der Schülerschaft kursieren die Themen sowieso. Verselbstständigen sich diese Erzählungen zu Horrorgeschichten, macht das Kindern noch viel mehr Angst. Das Credo für Erwachsene sollte heißen: Bewusst aufklären. Hilfreich dabei sind Präventivbücher wie "Ich geh doch nicht mit jedem mit".
Wie viel sexualisierte Gewalt gibt es?
Das Bundeskriminalamt hat 2021 über 15.500 Fälle von Missbrauch gemeldet, die angezeigt worden sind. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Zudem: Sexualisierte Gewalt geht über Missbrauch hinaus und umfasst nicht nur sexuelle Handlungen, sondern auch anzügliche Blicke und Bemerkungen. Klassisch sind Testhandlungen, die potenzielle Täter und Täterinnen durchführen, um zu sehen, wie ein Kind reagiert und ob es möglich ist, Nähe aufzubauen. Fakt ist: Täter und Täterinnen handeln nicht spontan. Oft lassen sich Strategien erkennen, wie ein langfristiger Vertrauensaufbau.
Falls dem Sportlehrer bei einer Hilfestellung die Hand verrutscht – ist das dann schon sexualisierte Gewalt?
Die Absicht ist entscheidend. Berührt ein Sportlehrer oder eine Sportlehrerin ein Kind bei einer Hilfestellung unpassend, kann das nachlässig und unsensibel sein – dann muss das korrigiert werden, um die intimen Bereiche der Kinder zu wahren. Ist die Absicht des Sportlehrers jedoch, sukzessiv immer mehr Körperkontakt zum Kind aufzubauen und das Kind zu verwirren, dadurch die Intimbereiche immer mal wieder wie durch Zufall zu berühren, ist das sexualisierte Gewalt. Das Kind fragt sich dann immer, hat der mich eben am Po angefasst oder nicht. Die Kinder werden hier ein stückweit manipuliert, die Situation als normal einzuordnen. Hier haben sie noch nicht einmal die Chance "Nein" zu sagen.
Das klingt, als ob öfter etwas passieren kann?
Wie gesagt, die Täter und Täterinnen sind unter uns. Der Anteil der Menschen mit pädophilen Neigungen ist übrigens sehr gering, auch wenn diese Schublade immer wieder gern verwendet wird. Die meisten Täter und Täterinnen agieren in erster Linie, um Macht auszuüben. Dem Großteil geht es nicht um sexuelle Befriedigung, viele haben eine erfüllte Sexualität, sind verheiratet und nicht selten hoch angesehene Personen oder geschätzte Kollegen. Die Täter und Täterinnen sind aus der Mitte der Gesellschaft - aus allen Bereichen, da gibt es keinen Bereich, der davor gefeit ist.
MDR (tomi)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Nachmittag | 03. Februar 2023 | 13:00 Uhr